Die wilde Jagd - Roman
als das Gesicht der Nonne, deren Narbe noch schrecklicher gewirkt hatte, weil sie vom Schatten der Kapuze halb verborgen gewesen war.
Messerstiche. Die Ränder waren zu sauber gewesen, um von einer anderen Waffe stammen zu können. Der Entzündung und den roten Flecken nach zu urteilen, wo die Wunde vernäht worden war, war sie recht frisch. War das, was dieser Nonne widerfahren war, der Grund für Schwester Sofis Aussage, sie brauchten eine bewaffnete Eskorte, um aus der Stadt herauszukommen?
Eine Hand packte ihn am Arm und drehte ihn um. Die letzten Bücher fielen ihm dabei aus der Hand.
»Was hast du zu ihr gesagt?« Sofis Gesicht war weiß vor Wut. »Was hast du getan?«
»Nichts, Schwester, ich schwöre es!«
Er bückte sich, um die heruntergefallenen Bände aufzuheben, doch sie stieß sie ihm aus den Händen. Sie beugte sich über ihn, hatte die Schultern zurückgenommen und die Fäuste in die breiten Hüften gestemmt.
»Resa ist verzweifelt, weil du etwas gesagt oder getan hast. Sag mir, was es war, oder bei Sankt Tamas …« Sie verschluckte den Rest ihrer Drohung und kniff die Lippen zusammen.
Gair erhob sich und breitete abwehrend die Hände aus. »Ich habe ihr Gesicht gesehen und sie gefragt, ob sie verletzt ist. Das ist alles. Ich dachte, ich könnte ihr vielleicht helfen.«
»Helfen?« Sofi verzog die Lippen. »Du kannst ihr nicht helfen. Niemand kann das. Es wäre eine Gnade gewesen, wenn die Große Mutter sie an jenem Tag zu sich genommen hätte.«
Sanft fragte Gair: »Schwester, was ist mit ihr passiert?«
Sofi schloss die Augen und beruhigte sich, indem sie tief die Luft einsog und wieder ausatmete. Dann wandte sie den Blick ab und öffnete mehrmals den Mund, bevor sie sagte: »Es gibt so viele Arme in der Stadt. So viele, die keine Mittel haben, um ihre Kinder durchzubringen. Wir helfen, wo wir können. Resa hat den Kleinen etwas vorgesungen, während Schwester Avis Nahrungsmittel vom Karren aus verteilt hat. Resa hat Nonsensverse vorgetragen und Spiele mit ihnen gespielt. Es hat sie immer gefreut, wenn die Kinder lachten.«
Sie ließ die Schultern hängen, und ihr Gesicht wurde ganz runzlig. Sie wehrte sich nicht, als Gair seinen leeren Stuhl umdrehte und ihr hinschob. Sofi setzte sich und schaute auf ihre Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte. »Sie stammt aus der Wüste – die erste Novizin aus Gimrael, die unsere Schwesternschaft seit zwei Generationen gesehen hat. Sie war ein sanftes Kind mit einem schönen Lächeln. Wir waren so stolz auf sie. Dann kamen die Kultisten.«
Sie öffnete den Mund und wartete auf Worte, die nicht kommen wollten. Gair goss ihr Tee ein, fügte eine Menge Honig hinzu und schob die Tasse in Sofis widerstandslose Hände.
»Sie haben gesagt, Resa hätte ihnen gepredigt, hätte sie verdorben. Schwester Avis hat versucht, dazwischenzutreten, aber man hat sie geschlagen. Sie ist mit dem Kopf gegen den Wagen geprallt, und zwar auf die Kante des Wagenrades. Und dann haben sie Resa die Stimme genommen.« Tränen fielen auf Sofis Gesicht und leuchteten im Licht des Nachmittags. »Sie haben ihr die Stimme genommen!«
Jetzt wusste er, was die Messernarben bedeuteten. »Sie haben ihr die Zunge herausgeschnitten.«
»Resa hat sich gegen sie gewehrt. Sie hat gekämpft wie ein Sandtiger.«
Es war sehr leicht, sich die Situation vorzustellen. Das Mädchen wand sich, ein Messer stach zu. Es war erstaunlich, dass sie nicht an ihrem eigenen Blut erstickt war.
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Gair.
»In der Kapelle.« Sofi hob den Kopf. Ihre Augen waren vor Trauer blicklos. »Sie betet für die Männer, die ihr das angetan haben. Sie bittet um Vergebung, aber ich weiß nicht, wie unsere gesegnete Mutter ihnen je vergeben könnte.«
Er schaute zu Alderan hinüber, der ihm zunickte und sagte: »Geh. Ich bleibe hier.«
Gair sah niemanden, als er durch die Korridore und Kreuzgänge des Tochterhauses auf die Kapelle zulief. Sofi hatte gesagt, dass sich die übrigen Schwestern um den Garten kümmerten und die schlimmsten Schäden beseitigten, die der Sturm hinterlassen hatte, und so war es unwahrscheinlich, dass er jemandem begegnete, der seine Gegenwart der Superiorin verriet. Dennoch lief er schnell, denn er wollte kein Risiko eingehen.
Die Tamasierinnen hatten ein verlassenes suvaeonisches Ordenshaus genommen und es zu ihrem eigenen gemacht. Den Turnierplatz hatten sie in einen Obst- und Gemüsegarten verwandelt und die Schmiede für die Herstellung alltäglichere
Weitere Kostenlose Bücher