Die wilde Jagd - Roman
sitze ich schon so hier?
»Nein, noch nicht.« Er schloss das Buch, schob es zur Seite und legte die Hand auf den rissigen Ledereinband. »Nur ein paar Gedichte.«
Ishamar al-Dinn, der wegen seiner Liebe den Zorn eines Prinzen auf sich gezogen hatte. Dass er inmitten all der Karten und Breviere auf diesen Gedichtband gestoßen war, hatte ihn so sehr gefangen genommen, wie es sonst nur ihrer Hand auf seinem Ärmel möglich gewesen war. Er hatte lediglich den Namen auf dem Titelblatt gelesen – mehr brauchte es nicht, damit ihre Stimme wieder seinen Kopf erfüllte.
Ai qur´ash-asghann; el majar e binh ey fahl majani, al-ashann iyya el habbir a baranjor . Es schnürte ihm die Kehle zu. Der Dornenvogel singt; meine Tränen fallen in den Staub, so wie sein Lied süß in mein Herz eindringt .
Er erinnerte sich daran, wie sie es ihm vorgelesen hatte, als sie in ihrem Bett gelegen hatten, während der Liebesrausch noch warm und schwer in ihren Gliedern gesteckt hatte. Ihre Stimme fuhr wie eine Liebkosung über ihn. Aysha .
Alderan sah ihn an. Gair befürchtete, ihren Namen laut ausgesprochen zu haben, und sprang von seinem Stuhl auf. Diese plötzliche Bewegung trieb ihm frischen Schweiß auf Brust und Rücken. Er ging zum offenen Fenster, doch auch dort frischte keine Brise die stickige Luft auf. Ein Blick nach draußen verschaffte ihm nicht einmal die Illusion von Kühle; die Öffnungen in der dicken Wand waren so schmal und lagen so hoch, dass nichts außer dem silbrig blauen Himmel hinter den schmiedeeisernen Gittern zu sehen war. Der Sturm war vorbeigezogen, und El Maqqam lag wieder unter dem herniederstarrenden Auge der Sonne.
»Eigentlich hätten wir schon längst etwas finden müssen«, murmelte er. Rastlos schritt er den Raum der Länge nach ab und fuhr dabei mit der Hand über die aufgetürmten Manuskripte und Bücher, die auf den vollen Regalen ihrer Durchsicht harrten. »Sind das alle Bücher, die die Ritter mitgebracht haben?«, fragte er, als er hinter Alderan die andere Seite des Raumes erreicht hatte.
»Das hat Schwester Sofi mir zumindest gesagt.« Der alte Mann klappte das Buch, das vor ihm lag, zu, warf einen Blick in das nächste und legte es rasch beiseite. »Kindermärchen.« Er griff nach einem weiteren. »Die Schwestern haben diesen Raum entdeckt, als sie aus Syfrien hierhergekommen sind.«
»Ich war der Meinung, das hier sei ein suvaeonisches Tochterhaus.«
»Das war es auch, bis der Orden es aufgegeben hat. Das Gebäude stand beinahe dreizehn Jahre leer, bis die Schwestern von Sankt Tamas es übernommen haben.«
Gair schaute sich um. Beschädigte Lederfolianten waren zusammen mit zusammengerollten Karten und Büchern aller anderen Größen in die Regale gequetscht. Manche Bände hatten keinen Rücken mehr oder waren verschrammt, andere waren fleckig von Salzwasser oder Schlimmerem, und es herrschte keine erkennbare Ordnung. Alles sah nach einem hastigen Aufbruch zu einem ungewissen Ziel aus.
»Warum sind sie von hier weggegangen?«, fragte er, doch dann erinnerte er sich. Natürlich. Das Massaker am Sankt-Benets-Tag, das den Lektor von Dremen dazu gebracht hatte, eine Krise des Glaubens zu erklären, die zu den Wüstenkriegen geführt hatte – und dazu, dass so mancher Soldat auf seinem Weg nach Süden seine Lust bei einem leahnischen Mädchen gestillt hatte. Was wiederum zu meiner Geburt geführt hat . »Egal. Es ist unwichtig.«
»Ich dachte nicht, dass du es vergessen könntest.«
Aber er hatte es vergessen. Verlegen und wütend auf sich selbst biss Gair die Zähne zusammen. »Es ist unwichtig.«
Eintausendachthundertneunzehn Tote in der ersten Nacht des Massakers. Eadorische Kaufleute, ihre Familien, sogar ihre Angestellten – alle wurden umgebracht. Kirchen wurden mit den Gläubigen darin angezündet, nachdem man die Türen zugenagelt hatte. Der Rest des Reiches erfuhr davon erst, als einige Fischer aus Zhiman-dar mehr als Gelbschwänze in ihren Netzen fanden.
Es hatte zu lange gedauert, bis diese Neuigkeiten Dremen erreichten; nicht ein einziger Nordländer wurde in El Maqqam am Leben gelassen. Diejenigen, die den Krummschwertern der Kultisten entkommen waren, starben in der gnadenlosen Hitze der Wüste. Die Ritter, die sie zu verteidigen versucht hatten, waren, eine grausame Parodie auf die Göttin, die sie anbeteten, an Dornbäume genagelt worden. Und nun stand wieder ein Krieg bevor.
Ich sollte nicht hier sein .
Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Es kostete ihn
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