Die wilde Jagd - Roman
angefangen, mein Kind. Glaubst du, dass du schon bereit dazu bist?«
»Ich erkenne, wie es gewebt wird. Ich weiß, dass ich es kann.«
Die Kugel war inzwischen kupferfarben und blass wie ein Sonnenaufgang.
»Also gut«, sagte Ytha widerstrebend.
Sie erwartet, dass ich versage. Aber das werde ich nicht .
Teia streckte die Hand aus und konzentrierte sich. Die Kraft stieg begierig in ihr an und sang an ihren Nervensträngen entlang, während Teia sie zu einer vollkommenen Kugel formte, die über ihrer Handfläche schwebte. Sie erkannte gerade noch, wie Ythas Miene von Zweifel über Erstaunen zu überraschter Anerkennung wechselte, als sich plötzlich ein schwarzes Gewölbe in ihrem Geist öffnete und ein gewaltiger Hund heraussprang. Entsetzen entwand die Macht ihrem Griff, und die Kugel erlosch. Teia keuchte auf, doch der Hund war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war – als wäre er nie da gewesen.
In ihrem Kopf drehte sich alles. War das eine Wachvision gewesen? So etwas hatte sie noch nie erlebt. Bisher hatte sie ihre Visionen nur beim Träumen oder beim Wahrsagen gehabt.
Teia zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Sprecherin zu richten, die, wie sie bemerken musste, völlig verblüfft war. Doch es hielt nicht lange an. Nach einem tiefen Atemzug war Ytha wieder ganz die Alte, kalt und unergründlich wie ein Bergsee.
»Bemerkenswert.« Ihr Lächeln war wie mit dem Messer gezogen. »Herzlichen Glückwunsch. Es kommt selten vor, dass eine Schülerin so viel mit so wenig Anleitung schafft. Kannst das wiederholen?«
Die Kraft stieg in dem Augenblick in Teia auf, als sie daran dachte, obwohl sie so müde war. Abermals schwebte eine kleine Kugel über ihrer ausgestreckten Handfläche. Sie runzelte die Stirn und konzentrierte sich, und nun entsprach die Farbe dem kühlen Blau von Ythas Kugel. Teia spannte sich an und wartete auf das Erscheinen des Hundes, doch nichts geschah. Die Kugel blieb und drehte sich sanft zum Rhythmus des Sangs in ihr. Sie entspannte sich und wagte ein kleines, zufriedenes Lächeln.
»Beachtlich«, meinte Ytha noch einmal. Sorgfältig betrachtete sie Teias Kugel und löschte sie dann mit einer zuckenden Handbewegung.
Die Unterbrechung ihres Kontaktes mit der Kraft traf Teia wie ein Schlag mit der Peitsche des Herdenmeisters. Sie schrie auf, wenngleich eher vor Überraschung als vor Schmerz.
»Noch einmal.«
Eine Probe. Na gut . Eine weitere Kugel, schneller und fester als die anderen. Wieder löschte Ytha sie aus. Diesmal traf es sie viel heftiger, doch Teia zuckte nicht zusammen.
»Noch einmal!«
Jetzt konnte sie die Kugel fast ohne Nachdenken erschaffen. Sie hatte gespürt, dass die Sprecherin gleichzeitig etwas gewebt hatte. Als ihre Finger zuckten, hob Teia die Faust.
Ythas Gewebe stieß gegen das ihre und wurde in Stücke gerissen. »Wie hast du das gemacht?«
Die grünen Augen verlangten eine Erklärung. Wie sie das gemacht hatte? Teia wusste es nicht genau; sie hatte einfach gehandelt. Instinktiv.
»Ich habe die Gestalt Eures Webens gesehen und es genauso gemacht. Aber statt eines Messers habe ich einen Schild gewebt.«
»Wie beeindruckend.«
Irgendetwas in der Stimme der Sprecherin warnte Teia. Ytha wirkte wie eine Katze, kurz bevor sie kratzte, oder wie ein Klappern im hohen Gras, das zu vorsichtigen Schritten mahnte. War sie zu weit gegangen? Vielleicht. Aber sie war kein Kind mehr, und sie wollte nicht mehr wie eines geschlagen werden.
»Verzeiht mir, Sprecherin. Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein. Du trampelst dort herum, wo du kaum auftreten solltest, aber du hast nichts falsch gemacht.« Die ältere Frau stand auf und zog ihren Mantel enger um sich. Ihre Kugel stieg in die Luft und schwebte nun über ihrer Schulter. »Ich glaube aber, das ist genug für den ersten Tag. Du solltest dich nicht zu sehr erschöpfen.«
»Natürlich.« Teia erhob sich ebenfalls und verschränkte die Hände scheu vor sich. »Vielen Dank für Euren Unterricht, Sprecherin. Ich bin sicher, dass ich unter Eurer Führung noch viel lernen werde.«
Ytha sah sie lange an. Diesen Blick kannte Teia bereits; damit erschuf die Sprecherin die Art von Stille, die schmerzhaft danach verlangte, gefüllt zu werden, und für gewöhnlich zu unklugen Worten führte. Teia stand ihr mit milder Miene gegenüber, die dem Schweigen den Stachel nahm. Es war, als trage man nach dem Stich der Nessel eine Seidenpflanzensalbe auf. Drwyns Launen hatten sie diese Fähigkeit unter
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