Die wilde Jagd - Roman
nicht, solange Teia nicht wusste, was sie von ihnen halten sollte. Die Sprecherin war schon mehr als einmal in ihrem Kopf gewesen, und Teia hatte ihre Gabe vor Ytha geheim halten können. Im Vergleich dazu fiel es ihr leicht, vor der Sprecherin nicht die Wahrheit zu sagen.
»Ich vermute, ich habe etwas Falsches gegessen.«
Ytha schnupperte. »Du musst aufpassen, was du isst, Mädchen. Denk daran, dass du nicht nur dich selbst, sondern auch den Erben deines Häuptlings nährst.«
»Es war lediglich ein verdorbener Magen. Ich verspreche, dass ich das nächste Mal achtsamer bin.« Sie senkte den Blick, neigte den Kopf und spielte das züchtige Mädchen vor der mächtigen Clansprecherin. Es schien zu wirken.
»Bist du denn bereit für deine erste Lektion?«
Aus der Asche in ihrem Kopf entfaltete sich ein grünes Blatt der Hoffnung. Wenn sie es lernte, ihre Weissagungen zu gestalten und zu kontrollieren, verstand sie diese vielleicht besser und konnte herausfinden, wie sie sich verhalten musste und wie sie Ytha und die anderen vor den Gefahren warnen konnte, die im Umgang mit den alten Gottheiten lagen. Doch sie musste vorsichtig sein und die passende Ehrerbietung zeigen, denn sonst würde die Sprecherin argwöhnen, dass sie viel mehr wusste, als ihr zukam.
Sie machte eine unbeteiligte Miene, aber es gelang ihr nicht, ein gewisses Zittern aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Ich glaube schon.«
»Du musst dir sicher sein!« Ythas Stimme war scharf wie ein Speer. »Du hast eine seltene Gabe, eine starke Gabe, und ich will nicht, dass sie durch Unsicherheit oder Zweifel vergeudet wird. Vielleicht habe ich noch Verwendung für deine Gabe, nachdem dein Kind geboren ist, falls die Gaben der anderen Mädchen, die ich gleichzeitig mit der deinen gefunden habe, nicht stark genug für eine Ausbildung sind.«
Einen Augenblick lang machte ihr diese Aussage mehr Angst, als wenn Ytha ihr eröffnet hätte, Teias Gabe am nächsten Tag ausbrennen zu wollen. Nach dem, was sie in ihren Träumen und in der Blutvision gesehen hatte, wagte sie es nicht, an das zu denken, was möglicherweise von ihr verlangt werden würde. Aber sie musste lernen, ihre Gabe zu zähmen, damit diese für sie arbeitete, statt sie umherzuschleudern wie ein Spielzeug. Wenn sie verstehen wollte, was vor ihr lag und wie sie es überstehen konnte, war es das Beste, die Beherrschung ihrer Gabe zu erlernen. Und die Sprecherin war die Einzige, von der sie lernen konnte.
Atme tief durch, Teia. Denk an die Manieren, die deine Mutter dir beigebracht hat . Mit einer einladenden Geste deutete sie auf die bestickten Kissen, die den Boden bedeckten. »Wollt Ihr Euch nicht setzen, Sprecherin?«
Der Blick, den Ytha ihr schenkte, war undeutbar, aber die ältere Frau nahm tatsächlich Platz und ordnete ihre Röcke. Teia setzte sich ihr gegenüber und legte die Hände auf die Knie.
Sofort formte sich eine bläuliche Kugel in der Luft zwischen den Köpfen der beiden Frauen. Als sie entstand, spürte Teia ein leises Ziehen in ihrem Innersten, genau dort, wohin sie griff, wenn sie in die Zukunft sehen wollte. So also fühlte es sich an, wenn man bemerkte, dass eine andere Frau die Kraft wirkte. Sie hatte dieses Ziehen schon öfter verspürt, aber nie seine Bedeutung erraten. Nun war alles klar.
»Kannst du es hören?«, fragte Ytha.
Teia lauschte, aber sie vernahm nichts. Dann öffnete sie sich der Musik und erkannte ihr Schimmern und Pochen als Antwort auf das Weben der Sprecherin. »Ich höre etwas .«
Die Farbe der kleinen Kugel wechselte von Blau zu Violett. Dabei veränderte sich der Ton der Musik; sie wurde reicher und irgendwie abgerundeter. Auch hatte sie so etwas wie eine stoffartige Struktur angenommen, beinahe wie Kette und Schuss. Teia erkannte nun das Gewebe deutlich und war erstaunt, dass sie nie zuvor daran gedacht hatte, es zu untersuchen. Schließlich waren Ythas Lichter für sie nichts Neues.
Hinter dem sanften Klingen von Ythas Macht hörte Teia, wie ihre eigene Gabe jede Schattierung und Beugung aufnahm, als ob sie gedrängt werden sollte, das Gewebe zu kopieren. Die Lichtkugel zeigte ihr, wie es ging.
Erregung durchströmte sie. War es wirklich so einfach, die Kraft zu wirken? Konnte sie es lernen, indem sie lediglich zusah, was eine andere Frau tat? War es möglich, dass die Musik – oder war es Magie? – sich in sie ergoss wie Seife in eine Form?
»Darf ich es einmal versuchen?«
Ytha hob die Brauen ein wenig. »Wir haben doch kaum erst
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