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Die wilde Jagd - Roman

Die wilde Jagd - Roman

Titel: Die wilde Jagd - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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hervorgeholt hatte.
    Irgendwo musste er anfangen. Er drehte die Klaue in Gairs Erinnerungen herum und zog an ihnen. Sie ergossen sich in einer großen, farbenfrohen Masse; jede Einzelne schimmerte und glitzerte wie Sonnenlicht auf dickem Eis oder wie Staub auf den Flügeln einer gefangenen Motte. Tausende winziger Bruchstücke aus Farbe und Klang und Geschmack, andauernd sich wandelnd, auf die zersplitterte verwirrende Art eines Kaleidoskops schön. Savin durchstöberte sie, fand das Herz des Musters und berührte es.
    Ein Junge, etwa neun oder zehn Sommer alt, lag rücklings auf einem flachen, vom Sommersonnenschein gewärmten Felsen. Das schläfrige Brummen von Bienen lag in der Brise, die landeinwärts wehte. Er beschirmte die Augen mit der Hand, um den Sonnenglast abzuwehren, und betrachtete etwas weit über ihm.
    Savin fuhr die langsamen Drehungen des Musters nach. Ein Adler im Flug am blauen Himmel. Das müßige Murmeln von Musik, die zu einem Schrei aus vollem Halse wurde. Ein weiterer Adler hockte auf einem Felsen und schlug mit den rot-goldenen Schwingen wie ein Jungvogel, der seine Stärke am Rande des Nestes auf die Probe stellte.
    Bemerkenswert.
    Die Erde sackte nach unten, und das Muster verzweigte sich zu unzähligen anderen, die wie die Blüten einer Wildrose zusammenklebten. Savin durchstreifte sie nun schneller, ließ die Fehlschläge und die Umrisse, die nicht hielten, unbeachtet, bis er zu einer weiteren Stelle kam, bei der jeder helle Wirbel eine etwas andere Färbung besaß. Neue Schemen. Eule. Fink. Adler. Wolf. Abermals Adler. Wieder Wolf, und dort ballten sich die Erinnerungen, waren miteinander verwoben, um einen einzelnen, schillernden Punkt herum.
    Er berührte ihn und spürte, einem sommerlichen Regentropfen gleich, einen Kuss. Plötzliche Verwirrung, durchschossen mit Lust: also der erste Kuss. Wie süß. Die Durchforstung der Myriaden von Abzweigungen des Musters brachte ihn zum Gesicht einer Frau. Verblüffende blaue Augen, kurzes, seidiges Haar, Haut in der Farbe von Zimt. Neckisch hübsch auf die gewandte, selbstsichere Art einer Katze. Noch bemerkenswerter.
    Fasziniert von der plötzlichen jugendlichen Lüsternheit, verweilte Savin dort im Strudel der Erinnerungen des Jungen. Er wollte sehen, wohin jener Kuss führte, wollte den Vorhang vor den fiebrigen Träumen des Jungen lüften und seine tiefsten Geheimnisse erfahren. Er gelangte zu einem weiteren Kuss, brennend in der glühenden Hitze eines Verlangens, das lange im Zaum gehalten worden war und nun zu heller Flamme entbrannte. Schwindelnd, stürzend. Savin zitterte, als die Gefühle der Erinnerung ihn umbrandeten. Haut und Rundungen und feuchte Seide, sich hebend, senkend, hinabfallend in Frieden, und dann, erst dann …
    Gebogene Beine. Verdrehte Knöchel, braungelbe, verschwommene alte Quetschungen. Das gespannte Drängen in seinem eigenen Bauch erstarrte.
    Wirklich? Nein, er musste es wissen.
    Hegst du Gefühle für sie? Für einen Krüppel?
    »Bitte …« Der Junge hatte seine Stimme wiedergefunden; es war kaum mehr als ein heiseres Keuchen. Er wand sich schwach unter der Tatze des Schneeleoparden; frisches Blut tropfte in den aufgewühlten Schnee neben ihm.
    Anscheinend empfand er etwas für sie. Wie merkwürdig.
    Weiter. Lass die Frau erst einmal in Ruhe, kehre zum Beginn dieses Zweiges des Musters zurück. Lektionen. Lehrer, einige bekannt, andere nicht. Durchsuche ihre Worte nach versteckten Bedeutungen, nach Hinweisen. Nichts. Dann Alderan: ein neues Muster. Zurück zu seinem Anfang. Gesprächsfetzen in dem Gewölbe des Jungenkopfes.
    … besitzt ein unglaubliches Potenzial, Gair, aber es ist noch viel Arbeit nötig, um es freizusetzen …
    War es nicht so? Seine Gabe war rau wie ungehobeltes Holz.
    … all das schützt der Schleier zwischen den Welten …
    Ja, ja, das hast du immer gesagt.
    … was du mir auf der Kielkätzchen gezeigt hast, hege ich keinen Zweifel daran, dass du diese Aufgabe erfüllen kannst …
    Was für eine Aufgabe war das? Savin folgte den Fäden so schnell wie ein Gedanke; er versuchte die verworrenen Bruchstücke zusammenzusetzen, fand aber nichts mehr. Seine angespannte Konzentration ließ allmählich nach.
    Was hat er dir gesagt? , wollte er wissen. Was?
    Keine Antwort. Das Gesicht des Jungen hatte durch den Schock alle Farbe verloren, oder es lag nur an der Kälte. Seine Lider flatterten, und die Lippen waren schmerzverzerrt. Savin runzelte die Stirn, und die Raubkatze zischte, denn das

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