Die wilde Jagd - Roman
ein Kind in sich, dessen Aura ich nicht lesen kann – ich kann nicht einmal sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein wird. Sie hat die Gabe des Wahrsagens – des echten Wahrsagens, wie die Banfaíth aus der alten Zeit. Das ist eine Fähigkeit, die in den letzten vierhundert Jahren nicht mehr aufgetreten ist.«
»Hat dir das die Milch sauer gemacht? Dass sie die Zukunft sieht? Es kann für uns doch nur von Vorteil sein, wenn wir wissen, was kommt.«
Schwachkopf! Bei allen Sternen, warum habe ich geglaubt, ich könnte diesen Trottel zu einem Häuptling der Häuptlinge machen, der unseren Namen ins Buch der Geschichte schreibt?
Sie beherrschte sich unter großen Mühen und ging hinüber zu ihm.
»Was ist, wenn die anderen Häuptlinge erfahren, was sie gesehen hat? Was ist, wenn sie ihr glauben? Ohne die Bestätigung der anderen Clans kannst du nicht zum Häuptling der Häuptlinge werden. Im Augenblick sind sie dir eng verbunden, aber wenn auch nur ein Einziger ausschert, werden wir viel zu tun haben, um ihn vor dem Auseinandergehen wieder zurück in die Reihe zu bringen. Und wenn mehr als einer abfällt, dann könnten wir genauso gut zu unseren Zelten zurückkehren und für alle Zukunft zufrieden mit unserem Exil sein!«
Ihre letzten lauten Worte hallten verzerrt und schrill von den Gipfeln wider. Am Rande ihres Blickfeldes sah sie, wie das Wasser erzitterte. Doch Drwyn verschränkte bloß die Arme vor der Brust und betrachtete sie abschätzend.
Unverschämtheit!
»Was hat sie denn gesehen, dass es dich so wütend macht?«, fragte er.
»Sie sieht, dass unsere Pläne erfolglos sein und die Clans in die Katastrophe führen werden. Sie sieht, wie sich die Wilde Jagd gegen uns wendet. Sie stellt Maegerns Versprechen in Frage.« Ytha spuckte die einzelnen Silben aus, als wären sie mit Galle überzogen. »Und als ich sie ausforschen wollte, hat sie ihre Kraft gegen mich eingesetzt!«
Drwyn hob eine dunkle Braue, und sein Bart zuckte und verdeckte ein Grinsen.
Ytha biss die Zähne zusammen und setzte eine unbewegte Miene auf. »Sie ist mir ein Rätsel, Drwyn. Bei ihr gibt es Dinge, die ich nicht kenne und nicht einschätzen kann. Und das könnte sich für uns als Bedrohung erweisen.«
»Was schlägst du also vor?«
»Sie muss zum Schweigen gebracht werden. Sofort.«
»Sie ist die Mutter meines Kindes, Ytha.«
Die Bestimmtheit, mit der er das sagte, hätte sie warnen müssen, aber die Wut hatte ihre feineren Instinkte ausgebrannt.
»Wer weiß, wessen Balg sie trägt? Ich sage dir, ich kann das Kind nicht lesen! Entweder verbirgt Teia es mit ihrer Kraft vor mir – in diesem Fall stellt sich die Frage, welche Kräfte sie sonst noch besitzt –, oder das Kind hat die Gabe in einem geradezu wunderbaren Maße und übertrifft diese verdammte trügerische Kuh bei Weitem!«
Drwyn fuhr sich mit dem Daumen über die Unterlippe, und Nachdenklichkeit lag in seinen schwarzen Augen. »Wir warten, bis das Kind geboren ist. Dann kannst du in es hineinfühlen und die Wahrheit herausfinden.«
»Aber dann wird es zu spät sein!«
Sie wirbelte herum und schlich zum Rand des Felsvorsprungs. Bei den alten Göttern! Erst hielt das Mädchen sie zum Narren und brachte all ihre sorgsam gehegten Pläne in Gefahr. Und jetzt lachte Drwyn sie aus – der Mann, der werden sollte, was sein Vater nie gewesen war! Wie konnten sie es wagen? Sie war die Sprecheri n ! Ytha trat einige Schneeklumpen in das Wasser unter ihr.
»Sie hätte mir schon vor langer Zeit überstellt werden müssen. Das Gesetz schreibt vor, dass ein Mädchen mit der Gabe sofort an die Sprecherin ihres Clans herausgegeben werden muss.«
»Ihre Verwandten wussten es nicht. Du hast selbst gesagt, dass sie ihre Begabung verborgen hat.«
Es war einfach unerträglich. Er rechtete mit ihr, und dabei sollte er lediglich ihr Befehlsempfänger sein! Wer war denn hier die Häuptlingsmacherin? Hatte er das etwa schon vergessen?
Ihre nächsten Worte waren scharf und klar wie Eissplitter. »Sie muss zum Schweigen gebracht werden.«
»Kannst du ihr das denn nicht befehlen? Sie ist schließlich eine deiner Schülerinnen.«
»Das ist sie, aber ich befürchte, sie gehorcht nur, wenn es ihr gefällt. Im Gegensatz zu den anderen hat sie keine Angst vor mir. Seit sie ihre Gabe offengelegt hat – und was für eine Gabe das ist! –, kann ich sie nicht mehr einschüchtern.«
Es war einfacher, dies zuzugeben, wenn sie dabei über das Tal schaute, anstatt Drwyn ansehen und
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