Die wilden Jahre
zielstrebig in die Wolkendecke. Der Vogel brauchte sich mit seinen Blindfluggeräten nicht zu fürchten.
Die Scheiben beschlugen sich mit schmutziger Nässe. Martin nahm wieder die Hand seiner Mutter. Ihre Lippen vibrierten stumm wie draußen die Tragflächen.
Auf einmal wurde der Nebel gelb, schweflig, wie erleuchtet von oben. Auch das Geräusch ließ nach, die beiden Motoren waren gedrosselt. Ein Ruck, und die Maschine löste sich vom schwarzen Gewölk.
Plötzlich regnete es oben Gold, war ringsum Blau. Der Glanz blendete die Augen. Die Sonne spielte mit zahllosen Lichtern, hüllte die drei Reisenden in eine goldgefaßte blaue Seidenstola.
»Quelle beauté! Magnifique!« rief Madame Rignier. Sie sprach laut, weil der Luftdruck des Höhenunterschiedes ihre Worte filterte. »Formidable! Regarde, vois comme c'est fantastique! Qu'est-ce que tu dis maintenant?« Sonst sagte sie selten ein Wort zuviel, jetzt konnten die Superlative ihrem Entzücken nicht folgen.
»Wo sind wir?« fragte sie.
»Wir fliegen der Sonne entgegen, nach Süden.«
»Und du hast wirklich Zeit für mich?«
»Meine Geschäfte sind nicht so wichtig«, erwiderte er. Lächelnd lehnte er sich zurück und schloß die Augen.
»Du lächelst heute wie ein Faun«, sagte die Mutter. »Filou plant eine Filouterie. Was hast du schon wieder …?«
»Plus que rien, maman«, sagte er heiter. »Überhaupt nichts.«
»Wohin fliegen wir eigentlich?« fragte sie zum zweitenmal.
»Zunächst nach Athen«, antwortete er. »Wenn du Lust hast, schauen wir uns die Akropolis an oder machen eine Hafenrundfahrt nach Piräus. Oder wir gehen zu einem Costa, trinken tintigen Wein, essen scharfen Ziegenkäse und hören diese seltsame Musik. Oder du ruhst dich ein wenig aus. Wenn du aber willst, fliegen wir gleich weiter. Madame sind Flugkapitän. Madame bestimmen die Route.«
Der Übermut machte ihn albern.
Auf einmal war auch die Wolkendecke unter der ›Bonanza‹ verweht. Das Land, eine sandige Ebene, leuchtete.
Ein erfüllter Traum, dachte Germaine Rignier; sie ließ nicht mehr erkennen, daß sie heute zum erstenmal flog, benahm sich wie ein erfahrener Luftpassagier, sah nach unten, betrachtete ihren Sohn so stolz, als hätte er auch das Fliegen erfunden.
Nach vier Stunden landeten sie in Athen und entschlossen sich, erst am nächsten Tag weiterzureisen. Während der Pilot am Flugplatz blieb, um das Tanken zu überwachen, unternahm Martin mit seiner Mutter alle Streifzüge durch die Stadt, die er ihr vorgeschlagen hatte.
Am nächsten Morgen frühstückten sie zu dritt so ausgiebig, als sei es ihr Tagewerk, und fuhren dann zum Flugplatz. Der Pilot stellte fest, daß der Windsack nach Südosten hing und sie bei ihrem Weiterflug zum Libanon, zur ›Schweiz des Ostens‹, Rückenwind haben würden.
Die Maschine zog eine Schleife über Piräus, unter der Höhenvorschrift, die Fluggäste besahen den Hafen von oben, der Pilot nahm Kurs auf Zypern und überflog die schillernde Ägäis zwischen Kreta und dem Dodekanes. Die ›Bonanza‹ geriet in ein Luftloch. Der Mann am Knüppel fing die Maschine in der Windbö wieder elegant auf, seine beiden Passagiere lächelten sich übermütig zu, als seien sie auf einer Kinderschaukel. Der Abglanz der Sonne flimmerte auf dem Meer.
Trotz eines Rundfluges über Zypern landete die ›Bonanza‹ pünktlich zum Fünfuhrtee in Beirut. Die Taxis am Flugplatz, alles ramponierte Amerikaner, sahen so aus, als seien sie die Sieger eines Auto-Rodeos oder eines Straßenaufstands. Die lärmenden, jammernden, schimpfenden und fuchtelnden Fahrer paßten gut zu ihnen.
Martin lachte über das erschrockene Gesicht seiner Mutter, wählte einen Ford, der das Fließband in Detroit 1936 verlassen hatte.
Der Fahrer verstaute ihr Gepäck. Dann schoß er los, fast nur mit Gashebel und Bremse fahrend; er hupte wild und fluchte in mehreren Sprachen.
»Lentement!« rief ihm Martin zu.
Der Mann drehte sich um, lachte und verdoppelte seine Anstrengung. Er vermied einen Zusammenstoß durch eine harte Linkskurve, stand quer vor dem Lastwagen, zwängte sich falsch durch die Einbahnstraße und brüllte einen Polizisten an, der es ihm verwehren wollte. Dann streifte er einen Obstkarren, der umfiel: die Früchte, Orangen, Feigen, Melonen und die Aprikosen ähnelnden Ikedinias rollten über den gestürzten Händler, der sich freiruderte, nach einem Stock griff und wie wild auf die Karosserie des flüchtenden Fords einschlug, während die Zeugen rasch das
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