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Die wilden Jahre

Die wilden Jahre

Titel: Die wilden Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Wagenknecht überrascht. »Gestern noch …« Er zwang sich zur Ruhe und setzte hinzu: »Dann geben Sie mir bitte Herrn Doktor Schiele.«
    Auch Ritts rechte Hand sei nicht im Hause, erfuhr der Bankier nunmehr.
    Wagenknecht wurde aufmerksam: Abgereist? überlegte er. Ins Ausland? Bluff wie beim letztenmal? Sicher eine Manipulation mit Aktien …
    »Die Zeitungen!« rief er in die Sprechanlage.
    Karin schob sich wieder in den Raum, stellte sich vor ihm auf, lasziv, unterwürfig. Sie reichte ihm die Blätter; der Bankier griff nach ihnen wie nach einem Halt.
    Er legte seine breiten häßlichen Hände auf die Schreibtischplatte; als er sah, wie sein Blut in den bläulichen Adern schlug, öffnete er die Schreibtischschublade und entnahm ihr ein Kreislaufpräparat, schluckte es hastig, ohne Wasser.
    Dann schlug er die Zeitungen auf. Die Wahlen warfen ihre Schlagzeilen voraus. Zum Ausgleich hatten die Redakteure das Blatt mit Sensationen gefüllt:
    KATZE ERSTICKT KLEINKIND – HUND RETTET ALTEM MANN DAS LEBEN – ELEFANT FRISST BRIEFTASCHE MIT 1.000 MARK – FLUGZEUGABSTURZ IN BRASILIEN FORDERT 78 TOTE, DARUNTER ZWEI DEUTSCHE …
    MINDESTENS 5 000 MENSCHEN IN HINTERINDIEN VERHUNGERT – PROFESSOR STURM ERKLÄRT, DASS DIE FETTLEBER DES BUNDESBÜRGERS ZU ZAHLLOSEN HERZ-, GEFÄSS- UND KREISLAUFERKRANKUNGEN FÜHRE …
    RUSSEN BEZEICHNEN DIE WAHL ZUM DRITTEN DEUTSCHEN BUNDESTAG WEGEN DES KPD-VERBOTS ALS ILLEGAL – SOZIALISTEN FORDERN HÖHERE LÖHNE BEI VERKÜRZUNG DER ARBEITSZEIT.
    Bankier Wagenknecht lächelte grimmig. Diese armen Sozialdemokraten, dachte er, sind nicht mehr blindlings blindlinks, tun mir leid, links ist, wo der Daumen rechts ist, Klassenkampf starb an Herzverfettung wie des Professors Kreislaufpatienten, Zeit, daß dieser Wahlkampf zu Ende geht, Aktienkurse stagnieren, widerlich, diese Wahlversprechen, dieses Buhlen um die Bürger, Bauern und Beamten …
    Peter Paul Wagenknecht fegte die Zeitungen mit Schwung in den Papierkorb, stand auf, ging durch sein Haus. Die Angestellten beugten sich über Karteikarten und Büromaschinen, denn sie verstanden sich auf sein Gesicht nicht minder gut als er auf faule Aktien.
    Kurz vor Eröffnung der Börse erfuhr die City, daß Martin Ritt gleichzeitig bei zwei Großbanken seine Konten aufgelöst und mit unbekanntem Ziel ins Ausland verreist sei.
    Bankier Wagenknecht entschloß sich, unter diesen Umständen doch zur Börse zu gehen, obwohl ihm sein Hausarzt Schonung verordnet hatte.
    In dem sachlich-modernen Raum schwebte vielseitiges Geflüster. Die Makler und die Vertreter der Banken trugen würdige Kleidung und erregte Gesichter. Ihre dunklen Anzüge wirkten auf den Laien, als warteten sie auf den Schwarzen Freitag – oder als seien sie Trauergäste.
    Wagenknecht wurde höflich, doch verwundert begrüßt, weil er sich hier seit langem nicht mehr gezeigt hatte. Er zog seine Handschuhe aus, legte sie in den Homburg, hängte den Hut auf den Haken; er spielte den Star in einer Nebenrolle.
    Die Börse verlief, wie in den letzten Tagen, flau und schleppend. Die meisten Papiere wurden zum Kurs der Vorwoche notiert, einige waren ein, zwei Punkte gestiegen oder gefallen. Nur die Chemieaktien des an der Börse neu eingeführten Alpha -Konzerns hatten sich um fünf Punkte erholt. Ein Risikopapier; ein Gerücht wollte wissen, daß der neue Konzern dabei sei, ein Medikament gegen den Krebs zu entwickeln. Die Herren der Börse winkten lautlos ab; Krebs war ihnen zu riskant.
    Das Tagesereignis spielte sich erst nach Börsenschluß ab. Ritts undurchsichtige Maßnahmen verwirrten die Geschäftswelt. Keiner wußte etwas, aber jeder teilte dem anderen mit, was er von der Sache hielt.
    Allen schien es ein spekulativer Fischzug zu sein; es wurde sogar von Kapitalflucht gesprochen, von Steuersorgen, von einem Schlag feindlicher Banken. Hinter dem halblauten Gemurmel stand deutlich das Mißtrauen gegen Ritt, der seinen Gegenspielern immer zuvorgekommen war.
    Eine halbe Stunde nach Börsenschluß hatten sich die Herren noch nicht getrennt. Bankier Wagenknecht hörte sich alle Gerüchte an, ohne an ein einziges zu glauben. Er stand zwischen den Machtblöcken, er war neutral, wohlwollend nach beiden Seiten. Er hielt Ritt für gerissener als seine Gegenspieler, diese aber für mächtiger als den Einzelgänger. Er wäre gern mit Ritt ins Geschäft gekommen, mochte es aber nicht mit den anderen verderben. Er hätte sich ungern an Banken angelehnt, die mit Ritt verfeindet waren, gab

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