Die wilden Jahre
fürchtet.
Die Stenotypistin kam zurück; Guido unterschrieb in siebenfacher Ausfertigung und wandte sich dann an den noch immer stummen Rothauch: »Ich hoffe, Sie überzeugt zu haben, daß nicht jeder Staatsbürger ein Untertan ist, Herr Staatsanwalt.«
»Ich hoffe, Sie überzeugen zu können, welch subtile Mittel ein tüchtiger Staatsanwalt hat, um dumme Renitenz zu brechen«, erwiderte Rothauch.
VI
Das Dienstzimmer des Ermittlungsrichters lag in einem stillen Seitenflügel des Polizeipräsidiums, und so oft Dr. Kleinlein es betrat, stellte er fest, daß er schon rein räumlich abseits der Karriere saß; in seinem Alter befand er sich als Ermittlungsrichter nicht auf einem Sprungbrett, sondern auf einem toten Gleis.
Eigentlich vermochte er seinen Vorgesetzten nur aufzufallen, wenn er Fehler beging, und so waltete er lustlos, aber korrekt seines Amtes, ließ in täglicher Routine den Auswurf der Nacht vorführen – Einbrecher, Ausbrecher, Autodiebe, Automatenmarder – und unterschrieb die Haftbefehle, um dann gegen sechzehn Uhr nach einer glanzlosen Arbeit einem freudlosen Privatleben in einer lichtlosen Wohnung mit einer unschönen Frau und einer unbegabten Tochter entgegenzutrotten.
Dr. Kleinlein hatte sich daran gewöhnt. Er spürte keine Ehrgeize mehr und kaum noch Wünsche; der große Versuch seines Lebens, dem bescheidenen Schema zu entkommen, war längst gescheitert. Von der Mutter bedrängt, hatte er die Tochter eines reichen Holzhändlers geheiratet, dessen Firma schon kurz danach in Konkurs gegangen war. Er brachte die braunen Jahre anständig hinter sich, ohne sich vorzudrängen, wurde drei Jahre vor Kriegsende zur Wehrmacht eingezogen und kam in russische Gefangenschaft. Zu spät zurückgekehrt, stellte er fest, daß die neuen Pfründen weitgehend von den alten Karrieristen besetzt waren.
Dr. Kleinlein bemühte sich redlich, seinen Missmut nicht auf seine Fälle zu übertragen; der Rest war Routine. Die Polizeibeamten waren mit ihren Aufgaben vertraut und stellten ihm keine Fallen. In wichtigeren Fällen wandten sich die Staatsanwälte an ihn, und man besprach sich auf kollegialer Ebene.
Wenn ein Vertreter der Anklagebehörde persönlich vorstellig wurde, war der Ermittlungsrichter gewarnt; aus Erfahrung wußte er, daß dann oft die Haftgründe unsicher, die Beweisführung schwach waren, und betrachtete sich die Akten genau, während er sonst fast blicklos die Vorführnoten unterschrieb.
Die tägliche Parade der ertappten Sünder dauerte am Morgen zwei, höchstens drei Stunden; das Gesetz sah vor, daß vorläufig Festgenommene innerhalb von vierundzwanzig Stunden freigelassen oder durch richterlichen Haftbefehl eingesperrt werden müßten.
Niemand verlangte von Dr. Kleinlein, daß er über Schuld oder Unschuld befand. Er hatte zu prüfen, ob der Angeschuldigte der Tat dringend verdächtig war, ob Gefahr bestand, daß ein Beschuldigter flüchten oder durch Beeinflussung der Zeugen sein Delikt verdunkeln könnte. Mit der Vorführung des Verhafteten war dann der Fall für den Ermittlungsrichter erledigt; das weitere veranlaßten Kollegen Kleinleins.
Trotz mancher persönlicher Reibereien kam es selten zu einem sachlichen Zerwürfnis. Die Strafprozessordnung, nach der gewaltet wurde, stammte aus dem vorhergehenden Jahrhundert und glich einem großen dunklen Mantel, der vielerlei barg und mancherlei verdeckte. Von vornherein hatte die Anklage das Übergewicht, und wer verhaftet wurde, dem schien die Verurteilung beinahe gewiß und nur das Strafmaß ungewiss. Man arbeitete häufig Hand in Hand und fast immer zum Nutzen des Staates. Die Staatsanwaltschaft deckte die Polizei, der Ermittlungsrichter ließ selten den Staatsanwalt im Stich, der Vorsitzende der Strafkammer kaum den Ermittlungsrichter. Das Zusammenspiel war lautlos und selbstverständlich und gab dem Schuldigen wenig Chancen, der Gerechtigkeit zu entgehen; es gab aber auch dem Unschuldigen wenig Recht gegen die Macht – so sie im Irrtum war.
Dr. Kleinlein, bestrebt, sich möglichst selten zu irren, war der makellose Vertreter eines mangelhaften Systems, der saubere Arbeit tat und sich um nichts anderes kümmerte als um seinen Dienst.
Der Ermittlungsrichter war fertig mit seinem Tagewerk und wollte gehen, als ihm von Polizeibeamten ein paar Nachzügler vorgeführt wurden. Kleinlein stellte, mehr der Gewohnheit als der Notwendigkeit folgend, ergänzende Fragen und unterschrieb dann die Papiere, die sein Inspektor vorbereitet hatte.
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