Die wilden Jahre
Was zu tun war, ist geschehen.« Seine Augen hielten Martins Blick stand. »Ich habe die Krankheit sofort erkannt«, setzte er mit müder Stimme hinzu, »leider auch, daß sie unheilbar …«
»Und ich dachte, Sie seien ein großer Arzt«, entgegnete Martin, »dabei sind Sie ein – ein erbärmlicher Lügner!«
»Hören Sie auf damit«, erwiderte der Internist. »Ich will Ihnen nichts von ärztlicher Schweigepflicht erzählen. Ich hätte auch nicht geschwiegen. Wenn Sie den Mut aufbringen, mir zuzuhören, sollen Sie die ganze Wahrheit erfahren. Daß die Patientin heute noch lebt, was fast ein Wunder ist, verdankt sie nur dieser ungeheuerlichen Komödie. Verstehen Sie: Germaine hat sich so hineingelebt, die Krankheit vor Ihnen zu verbergen, daß sie sich, freilich nur befristet, über die Krankheit erheben konnte. Als ich das merkte – ich bin Germaines Arzt, nicht Ihrer – machte ich mit. Nur deswegen.«
Der Professor betrachtete Martin, sah, daß er widerstrebend zu verstehen begann. »Lassen wir alle medizinischen Erörterungen beiseite«, fuhr er fort. »Mir brauchen Sie nicht zu sagen, daß es Krankheiten gibt, die uns Ärzte zu Pfuschern stempeln. Sehen Sie, ich habe Angina pectoris – auch unheilbar. Soll ich Ihnen erläutern, wie meine Krankheit verlaufen wird?« Er überzeugte sich durch einen Blick, daß ihm Martin zuhörte. »Letal«, sagte er knapp, »tödlich – eines Tages, eines baldigen Tages, aber jede Stunde bis dahin ist ein Stück Leben –, und so sagte ich mir auch bei Germaine: wenn ich ihr nicht helfen kann, dann will ich wenigstens ihr Leben verlängern.«
»Ihr jämmerlichen Quacksalber«, erwiderte Martin verbittert, »Hundeherzen verpflanzt ihr, Beine könnt ihr absägen, Blinddärme herausreißen, Senfpflaster anlegen, aber wenn es darauf ankommt …« Professor Sturm sah, daß Martin, dessen Gesicht alt und grau wirkte, der Zorn Linderung verschaffte, und ließ ihn weitersprechen. »Ihr traurigen Wissenschaftler, in den Weltraum wollt ihr vorstoßen, zum Mond fliegen, Raketen baut ihr – aber wenn es um Leukämie geht, wisst ihr nicht einmal, woher sie …«
»Beschweren Sie sich nicht bei mir. Wenn Sie mit der Weltordnung hadern, muß ich Sie an eine andere Adresse verweisen. Schluß!« sagte der Professor. »Sie gehen zu Ihrer Mutter, Sie sind jetzt ihr Arzt, der über die Frist wacht, die ihr noch bleibt. Wenn Sie Germaine erkennen lassen, daß Sie um ihre Krankheit wissen, können Sie – ich muß mich deutlich ausdrücken – ihr Mörder werden.«
»Aber das ist doch …«
»Nehmen Sie sich an Germaines Mut und Kraft ein Beispiel. Nur wenn Sie ihr unbefangen begegnen, können Sie ihr – vielleicht – helfen.«
»Wie lange?« fragte Martin.
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Arzt.
»Wie lange?« wiederholte Martin die Frage barsch.
»Nicht mehr lange«, antwortete der Hüne mit matter Stimme. »Ich will Ihnen also auch nichts mehr vormachen«, bekannte er, »ich glaubte schon vor der letzten Remission nicht, daß sie es noch einmal übersteht …«
»Danke, Professor«, erwiderte Martin gewaltsam beherrscht, »ich …«
»Sie brauchen sich für Ihre Ausfälle gegen uns Ärzte nicht zu entschuldigen«, unterbrach ihn der große, kraftvolle Mann gepresst. »Sie haben ja recht.«
Martin sah Verzweiflung und Aufbäumen, Ergebenheit und Elend im Gesicht eines Arztes, der in dieser Stunde einen Beruf verachtete, zu dessen Prominenz er gehörte.
Petra erkannte Evas Stimme sofort, und bevor sie noch wußte, wie sie sich zu dem überraschenden Anruf stellen sollte, hörte sie, daß sich Madames Zustand außerordentlich verschlechtert habe und mit dem Schlimmsten zu rechnen sei.
Die Fünfzehnjährige legte benommen den Hörer auf; betroffen und erschrocken dämmerte ihr zum ersten Mal, daß hinter der Annäherung Evas an Madame ein anderes Motiv stehen könne, als sie in ihrer Verbitterung angenommen hatte.
Als Petra nach Frankfurt gekommen war und Bettinas hektische Freude über ihre Flucht erlebt hatte, war ihr klar geworden, daß sie die latente Spannung der Villa an der Riviera mit einem offenen Triumph im Hause Schlemmer vertauscht hatte. Es schien ihr, als erwarteten Bettina und der Stiefvater den Donnerschlag einer Explosion. Sie hatten wieder konspirative Gesichter, sprachen halblaut in Andeutungen. Petra erkannte den aufziehenden Sturm und wußte, wen er bedrohte. Sie sah jetzt in Bettinas Gesicht mehr befriedigten Hass als mütterliche
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