Die wilden Jahre
Geldscheine; sie zeigten keine Unterschrift. Die D-Mark hatte keine Deckung, doch Martin zweifelte nicht daran, daß sie bald so hart sein würde wie die Herzen der Bauern, die den Kindern die Milch vorenthalten hatten, um ihre Schweine damit zu tränken.
Martin ging durch die zerstörten Straßen und sah, daß erste Waren sich in den geflickten Auslagen anboten wie späte Huren; verschämt und schamlos lagen Zahnstocher neben Klosettpapier, Rasierseife neben Damenbinden, Kinderschnuller neben Präservativen, Würfelzucker neben Insulin.
In demütigem Erwerbssinn füllten Kaufleute, denen gestern noch die Kunden lästig gewesen waren, Obst und Gemüse in Papiertüten, die es seit heute wieder gab. Sie lächelten mit verlegenem Stolz und schoben die unterschlagenen Angebote auf ihre Lieferanten, diese beriefen sich auf die Fabrikanten, jene auf die deutschen Behörden und letztere auf die jeweilige Besatzungsmacht.
Die Betrogenen hatten keine Zeit, zu untersuchen, wer sich mit ihren Hungerödemen die Taschen gefüllt hatte: Sie waren Normalverbraucher, die nicht zürnen konnten, sondern kaufen mußten, und so gingen ihre ersten vierzig neuen Mark den Weg allen Geldes: aus den Händen der Armen – in die Kassen der Reichen.
Aber Hungrige wurden satt und übersahen im ersten Taumel, daß ihnen der Geldschnitt neun Zehntel ihrer Ersparnisse nahm. Die Zigarettenwährung entschwebte wie Tabakrauch, als die neue Mark von den Wehen in die Windeln kam. Martin wartete ab; er überstürzte nichts, setzte nur einen kleinen Posten seiner Nylonstrümpfe ab, die ihm die Käufer aus der Hand rissen, um das Geld für eine gefälligere Verpackung zu bekommen. Bellezza nannte er seine linksgewebten Produkte, und da seit dem Krieg die Luxusgüter alle unter englischer Parole dienten, pries er die Vorzüge seiner elegant aufgemachten Strümpfe unter italienischem Namen an; es war sein erster Werbeeinfall.
Erst als die Behörden die Bezugsscheinpflicht abschafften, handelte Martin: Statt reisender Schwarzhändler konnte er jetzt ordentliche Textilvertreter losschicken, die einen konkurrenzlosen Artikel feilboten; aus den dunklen Warenlagern der anderen waren nur bejahrte Baumwollstrümpfe an das Licht der Auslagen gekommen.
Es war soweit; Martin begann, den Lohn einer bedenkenlosen Umsicht einzustreichen. Die ersten hunderttausend Mark verdiente er in einer Woche, an deren Ende ihn ein Telegramm aus Paris erreichte: JUST MARRIED kabelten Felix und Susanne. Ob dieser seltsame Umerzieher ausgerechnet jetzt in Paris heiratete, um die bedrängende Wirklichkeit des Tages X zu fliehen? fragte sich Martin – und telegrafierte zurück: TU FELIX LESSING NUBE.
XXI
Vom Arc de Triomphe ergoß sich das Licht wie ein Wasserfall auf die Champs-Elysées, die Sonne zwängte sich durch die engbrüstigen Gassen von Paris, als wollte sie Raum schaffen für die spielenden Kinder, und die Fassaden würdiger Häuser, die sie streichelte, lächelten wie alte Sünder. Die Stadt liebte das Licht und die Farben, und die Mädchen in frohen Sommerkleidern sprühten bunte Tupfen in das Meer aus Stein. Aus dem grauen Asphalt quollen großen Pilzen gleich korallenrote und enzianblaue Sonnenschirme empor; Paris trug seinen hellen Glanz wie eine flammende Krone.
»Glücklich?« fragte Felix.
»Wie kannst du nur fragen?« antwortete Susanne.
Sie saßen an der Place de la Concorde, und sie waren im Einklang mit sich, der Stadt, dem Tag, dem Leben. Als Felix das letztemal in Paris gewesen war, im August 1944, folgte er dem Handstreich eines Generals, der Frankreichs Herz befreite; er hatte mit der Kampfpause gehadert, die von der Begeisterung erzwungen wurde. Felix wollte nicht in Paris feiern.
Damals hetzte ihn der Haß gegen Deutschland – heute hatte er in Paris eine Braut geheiratet, ein Mädchen, das er liebte, aus einem Land, für das er arbeitete.
»Gib mir deine Hand, Felix«, bat Susanne, »die rechte!« Sie streichelte seine Finger und hielt spielend den Ring fest.
»Das hast du nun davon«, lachte sie ihn aus.
»Tut's dir schon leid?« fragte er.
»Später erst.«
»Wann?«
»Vielleicht nie«, antwortete Susanne.
Felix stand auf, zog sie hoch, streichelte ihren Nacken, spürte ihre Nähe und ging mit ihr weiter. Susanne hängte sich ein, und beim Gehen lehnten sie sich aneinander, als müßten sie sich stützen. Sie kamen zur Rue de Rivoli und blieben vor den lockenden Auslagen berühmter Geschäfte stehen.
»Weil du Mrs. Lessing
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