Die wilden Jahre
OMNIA. Die Buchstaben verwischten sich, aber er erfaßte den Sinn: DIE LIEBE BESIEGT ALLES und spürte doch eine schleichende, unbegreifliche Angst.
»Morgen – wir reisen wirklich?«
»Ja, Maman«, antwortete Martin.
III
Der Himmel hing tief am nächsten Morgen. Der Ruß nährte den Dunst, fette konturlose Wolken trieben im Rudel, Richtung Nordwest. Eine schiefergraue, fast schwarze Decke schwebte als Nebelglocke über der Stadt wie der Wahlkampf über ihren Bewohnern. Es war elf Uhr, aber der Tag hatte sich noch nicht erhoben. Am späten Morgen schon wirkte er verbraucht.
Wer nicht auf die Straße mußte, blieb im geheizten Raum. Früher Herbst gebärdete sich wie tiefer Winter. Die Passanten trugen Wintermäntel und Wollschals. Sie gingen rasch, hüstelten, hatten unmutige Gesichter.
Nur der Kanzler, der große Greis, lächelte glücklich und verjüngt auf Hunderten von Wahlplakaten, auf denen der Slogan stand: KEINE EXPERIMENTE.
An der Litfaßsäule neben dem Ritt-Hochhaus klebten sie; schräg gegenüber an der Baustelle hing der Politiker gleich zwanzigmal nebeneinander; die Bretterwand wirkte wie ein Spiegelkabinett.
Die Privatbank Wagenknecht, eine der einladenden, großfenstrigen, marmorprunkenden Geldscheunen, in die man die Tagesernte des Erfolgs einbrachte, duldete keine Plakate, obwohl sie die Regierungsparteien mitfinanzierte.
Der Inhaber des Unternehmens, Peter Paul Wagenknecht, hatte nach dem Ersten Weltkrieg als Häusermakler begonnen und war bei der Beschaffung von Hypotheken zwangsläufig in das Geldgeschäft geraten. Die in den dreißiger Jahren von ihm gegründete kleine Privatbank florierte nach der Währungsreform derart, daß das Stammhaus abgerissen und ein Neubau erstellt wurde, damit die Repräsentation den erhöhten Umsätzen entsprach.
Das Unternehmen hatte sich mit Erfolg an die verwegene Ferrai- Spekulation des Industriefinanziers Martin Ritt gehängt; außerdem konnte das Bankhaus eine Reihe neuer Kunden gewinnen, weil es durch den Kauf eines Ruinengrundstücks rechtzeitig für Parkplätze gesorgt hatte.
Der Bankier saß an seinem Schreibtisch. Die frühere Einrichtung seines großräumigen Büros, falsches Biedermeier, war im Zug der Modernisierung mit zeitgemäßen und praktischen Knoll-Möbeln vertauscht worden.
Peter Paul Wagenknecht war mittelgroß, untersetzt. Seinem stets geröteten Gesicht fehlte das Kinn fast gänzlich, seine Stirnglatze wurde von grauen Locken umsäumt, so daß er wie ein altmodischer Maestro aussah.
»Diktat«, rief er in die Sprechanlage.
Ohne aufzusehen, erkannte er das Mädchen Karin am Schritt. Die Sekretärin war zwanzig, hatte die Erfahrung von vierzig, dazu ein hübsches vulgäres Gesicht mit einem vollen willigen Mund. Sie ging nachlässig, mit leise schleifenden Schritten. Obwohl sie nur langsam vorankam, brauchte sie den ganzen Körper zum Gehen. Ihr Pullover war zu prall, der enge Rock zu kurz, die gefärbte Mähne zu blond.
Sie setzte sich, schlug die langen Beine übereinander, legte sich den Stenoblock zurecht, beugte sich nach vorn, bot sich den prüfenden Blicken des Bankiers an. Der Ausschnitt ihres grünen Pullovers verschob sich, weitete sich zum Dekollete.
Wagenknecht sah weg.
»Sehr geehrter Herr Ritt«, diktierte er mit unsicherer Stimme, »ich möchte nicht versäumen …«
»… versäumen«, wiederholte Karin.
Er betrachtete ihre Beine. Die Sekretärin spürte seinen Blick und strich mit deutlicher Geste den Rock nach unten; es sah aus, als dränge sie seine Hand beiseite.
»Ihnen für die gestrige Einladung …« Er blieb zum zweitenmal stecken.
Nur ihretwegen, dachte er, sie ist geil wie eine Hafennutte. So etwas gehört in keine Bank. Wenn ich mit ihr schlafe, wird sie mich danach erpressen – wenn ich es lasse, schlafe ich unruhig. Ich werde sie hinauswerfen und dann … Was soll ich diesem Ritt bloß schreiben?
»Ich diktiere später weiter«, sagte er. »Oder«, verbesserte er sich, »ich werde telefonieren. Verbinden Sie mich mit Herrn Ritt.«
Er sah wieder an Karin vorbei. Erst als sie ging, starrte er ihr nach, schaute noch auf die geschlossene Tür, bis das Telefon klingelte.
»Wagenknecht«, rief er in die Muschel, »Herrn Ritt, bitte.«
Eine Sekretärin mit einer trägen Stimme sagte ihm, daß der Hausherr nicht erreichbar sei. Wegen einer plötzlichen Erkrankung seiner Mutter habe er in den Süden verreisen müssen; seine Rückkehr bleibe unbestimmt.
»Aber wieso denn?« unterbrach sie
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