Die Wildkirsche. Erotischer Roman
Gästezimmer zu beziehen. Offenbar hatte ihn Ducats Bemerkung bei dieser Entscheidung beeinflusst, nachdem er selbst vor geraumer Zeit bemerkt hatte, dass zwischen seiner Tochter und seinem Ziehsohn etwas gewachsen war, das über eine reine Freundschaft hinaus ging. Lorraine schien zwar nicht allzu begeistert von dieser Idee, befolgte jedoch die Anweisung ihres Vaters und half, die wichtigsten Sachen aus den Schränken ihres Vaters nach oben zu tragen, während Julien seine Habe in sein neues Gemach brachte.
Noch am selben Abend machte Julien sich auf den Weg zum Coq Doré, um nach Chik zu suchen. Der Vagabund saß an der Bar und nippte an einem Humpen. Kaum hatte er Julien bemerkt, sprang er auf und kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen, als wollte er einen alten Freund begrüßen.
»Welche Überraschung!«, rief er aus und schüttelte eifrig Juliens Hand.
»Setzen wir uns und reden.« Julien blickte sich misstrauisch um. Die Gestalten, die hier verkehrten, waren ihm nicht geheuer. Der Geruch von Zigarren lag schwer in der Luft. Dirnen leisteten den Gästen an ihren Tischen Gesellschaft. Eine Gruppe betrunkener Taugenichtse grölte ein Lied. Es kostete ihn einiges an Überwindung, an einem der hinteren Tische Platz zu nehmen. Chik holte sein Bier von der Bar und brachte Julien ein Seidel mit.
»Wie geht es denn deiner schönen Geliebten?«, fragte er neugierig.
»Sie ist nicht meine Geliebte. Sie ist die Tochter des Doktors. Mehr nicht.«
»Ah, so ist das.« Chik ließ keinen Zweifel offen, dass er Julien kein Wort glaubte. »Hast du über mein Angebot nachgedacht?«
»Deswegen bin ich hier. Ich bin nach wie vor unsicher.«
»Was gibt es denn zu überlegen? Der Geburtstag seiner Hochgeboren ist bereits in zehn Tagen. Es müssen Vorbereitungen getroffen werden. Wenn wir nicht bald mit dem Maître de Plaisir sprechen, werden sie jemand anderes in ihr Programm nehmen. So läuft es in der Welt. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Greif die Gelegenheit beim Schopf oder lass dir fünfzehn Louis d'Or durch die Lappen gehen.«
Julien hielt den Atem an. Mit einem solch großzügigen Honorar hatte er nicht gerechnet.
»Ich sage dir das nur, damit du eine Vorstellung von der Größenordnung bekommst. Künstler haben nun einmal ihre Preise.«
»Aber, fünfzehn Louis d'Or, das ist unglaublich viel.«
»Für uns schon. Für die hohen Herrschaften sind dies nur ein paar Krumen. Du siehst mich an, als würdest du mir noch immer nicht glauben. Ich übertreibe nicht und will dich auch zu nichts zwingen. Ich kann dein Misstrauen verstehen. Warum solltest du ausgerechnet mit mir Geschäfte machen?«
Julien nahm einen großen Schluck, wischte sich den Schaum mit dem Handrücken vom Mund und blickte Chik nachdenklich an.
»Ich denke, wenn wir zusammenarbeiten wollen«, sagte Chik, müssen wir einander vertrauen können. Richtig?«
»Richtig.«
»Aus diesem Grund will ich ganz offen zu dir sein. Ich sagte dir bereits, dass ich ein anderer Mensch geworden bin. Aber niemand ändert sich von heute auf morgen. Es ist eine lange Geschichte. Sie verurteilten mich wegen Diebstahls zu einer Gefängnisstrafe. So absurd es klingt, ich war dankbar dafür. Denn in anderen Teilen des Landes erhält man für dasselbe Verbrechen die Todesstrafe! Im Nachhinein frage ich mich jedoch, welche Strafe die größere Gnade gewesen wäre. Im Gefängnis lebte ich wie ein Tier, umgeben von Ratten, Dreck und Exkrementen, sah nur ganz selten das Tageslicht und war Tag und Nacht der Willkür unserer Wärter ausgesetzt.«
»Ich kenne das Gefühl des Eingesperrtseins nur zu gut«, entgegnete Julien mit steinerner Miene.
»Ich weiß.« Chik warf ihm einen bedauernden Blick zu. »Ich spürte nun am eigenen Leibe, was meine Brüder und ich dir angetan hatten. In mir wuchs der Wunsch, den Fehler, den ich an dir begangen hatte, wiedergutzumachen. Durch Zufall kam ich mit einem Mitgefangenen, der durch die Folter zu einem gebrochenen Mann geworden war, ins Gespräch. Wir redeten über Gott und die Welt und kamen irgendwann auf dich zu sprechen, den Wolfsmann, der die Freiheit so sehr liebte, die ich ihm geraubt hatte. Da sah er mich an und erklärte mir, er sei dir einst begegnet.«
Julien hielt erstaunt den Atem an.
»Ich war ebenso überrascht wie du. Er sagte, du würdest in Gagnion bei Doktor Beaumont leben. Wenn ich dich finden wolle, sollte ich es dort zuerst versuchen. Ubaldo und Maryo sorgten dafür, dass eine ordentliche Summe in die Hände eines
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