Die Wildnis
die Geschmeidigkeit seiner Muskeln. »Vergiss nicht, wir sind nicht die ersten, die hier lang fahren.«
»Wir kommen gut voran«, sagte Jim. Er war am Schöpfen, seine Kleidung war völlig durchgeschwitzt, und auch seine Stirn war nass. Jack hatte den Lehrer noch nie so glücklich gesehen.
»Wie gesagt, bis jetzt schon«, setzte Jack noch mal an. »Aber es kommen noch ganze andere Gewässer auf uns zu, Männer.«
»Stromschnellen, ja«, erwiderte Merritt. »Davon haben wir gehört. Dann werden wir eben tragen müssen …«
»Nein«, entgegnete Jack. »Dauert zu lang, ist zu gefährlich, der Abstieg ist zu steil, das Land zu wild. Wisst ihr was vor uns liegt? Habt ihr die Karte studiert?«
Die beiden anderen sahen sich an. Merritt zuckte die Achseln.
Jack seufzte. »Die White-Horse-Stromschnellen. Sehr wild, sehr gefährlich. Viele haben schon versucht, sie zu fahren. Manche verschwinden, manche werden tot ans Ufer gespült. Viele kehren um.«
»Umkehren ist nicht«, antwortete Merritt. Jack war von seiner Entschlossenheit beeindruckt.
»Aber du hast uns doch ein gutes Boot gebaut?«, fragte Jim. »Und du kannst damit umgehen?«
Jack sah sich die Yukonschönheit an. Wasser plätscherte ihm um die Füße, und da Jim beim Schöpfen nun Pause machte, um sich zu unterhalten, stieg das Wasser kontinuierlich und schnell. Der Bug war spitz, das Heck rechteckig, nur der Tiefgang machte ihm ein wenig Sorgen. Die groben Planken, die sie zum Rumpf zusammengebunden und vernagelt hatten, sogen sich mit Wasser voll und bogen sich.
»Ja, das ist ein gutes Boot«, stellte er fest. Eine Weile lang ruderten sie still vor sich hin und dachten an die Gefahren, die vor ihnen lagen.
Das donnernde Wasser bildete eine wüst schäumende, schlangenförmige Wand am Fuß der Schlucht. Es war ungeheuerlich. Die Erde bebte, die Luft dröhnte, die Gischt kühlte Jacks Haut ab wie die Berührung einer Geisterhand. Er war bis ins tiefste Innere aufgeregt und gleichzeitig völlig entsetzt, eine Gefühlsmischung, die er so noch nie erlebt hatte und vermutlich auch nie mehr erleben würde. Seine Seele jubelte angesichts des bevorstehenden Abenteuers auf. Er wusste, dass die Sehnsucht nach Abenteuern eines Tages sein Tod sein könnte.
Neben ihnen standen auch noch andere Menschen am Ufer, in Gruppen oder alleine, und sahen sich den mächtigen, furchteinflößenden Fluss an. Jack fragte sich, wie lange sie wohl schon da standen, Männer und Frauen, gelähmt vor Angst wegen dem, was vor ihnen lag. Er hatte den seltsamen Eindruck, dass sie erstarrt waren und langsam zu Stein wurden, während das Wasser gleichgültig an ihnen vorbeidonnerte, ohne auf das Verstreichen der Zeit zu achten. Vielleicht würde der Fluss eines Tages seinen Lauf ändern und beginnen, diese versteinerten Figuren abzutragen, wenn es die Gischt nicht schon vorher tat.Hier standen sie also, Zeugnis von Furcht und Entschlossenheit, konnten nicht weiter und weigerten sich doch umzukehren.
Vor den Augen der Zuschauer bereitete Jack die Yukonschönheit vor. Er fühlte sich gut. Er spürte die Blicke, und selbst wenn sie ihn für wahnsinnig hielten, war doch auch Respekt dabei.
»Merritt, du gehst an den Bug.« Er überreichte Merritt ein Ruder. »Du bist auf dem Amazonas mit dem Kanu gefahren, hast du erzählt.«
»Ja, aber …«
»Dann bist du unser Ausguck.« Jack konnte dem Mann seine Furcht ansehen, aber jetzt die Reise zu unterbrechen, hieße für immer umzukehren. »Jim nimmt die Ruder. Einfach immer weiterrudern, damit die Kraft vom Boot zum Wasser übergeht und nicht umgekehrt. Ich bin hinten am Heck und steuere.« Er sah aufs Boot, das nah am Ufer trieb. »Erst mal verpacken wir alles so niedrig wie möglich.«
»Dann wird aber alles nass«, meinte Jim.
»Besser als das Gewicht oben lassen und kentern.«
Die drei arbeiteten Hand in Hand, und Jack konnte tatsächlich spüren, wie sich die Angst der anderen beiden langsam in Aufregung verwandelte. Es hatte etwas damit zu tun, das Schicksal in die Hand zu nehmen, etwas zu tun , anstatt einfach nur wie die anderen Goldgräber am Ufer zu stehen und zu gucken. Aber es hatte auch etwas mit Kameradschaft zu tun, dachte er. Das machten sie gemeinsam und empfanden sich als Team.
Als sie ablegten, rief man ihnen vom Ufer aus Ratschläge zu. »Haltet euch an die Welle in der Mitte!«, rief irgendwer, und dasselbe empfahl jemand anders. Jack fragte sich, wie viele lebensmüde Leute die Zuschauer wohl schon hatten
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