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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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sich geborgen und musste sich wieder die Frage stellen: Wer ist Jack London? Er war noch weit von einer Antwort entfernt, dachte er, aber der Fluss trug ihn immer näher.
    »Gruselig hier«, fand Merritt im Bug des Bootes. Er blickte sich in der Schlucht um, an Jack vorbei, dann in Fahrtrichtung nach vorne, und wenn er ein Hund gewesen wäre, hätte er geknurrt und die Nackenhaare aufgestellt.
    »Das ist zu laut, um gruselig zu sein«, meinte Jim, der gerade sorgfältig seine Brille putzte. »Und zu kalt.«
    »Lass die Handschuhe lieber an, Jim«, ermahnte Jack. »Wenn wir die nächste Stromschnelle erreichen, wirst du alle Nerven in deinen Händen brauchen.«
    »Ich hab kein Ruder mehr«, stellt Merritt fest. Er trat den Deckel einer ihrer Proviantkisten herunter, riss sich ein Brett davon ab und bog vorsichtig die Nägel zurück, damit sie nicht hervorstanden. Die ganze Zeit über blickte er sich um wie ein Beutetier, das auf der Hut vor dem Raubtier ist.
    Jack sah sich ebenfalls um. Während in der Ferne das Grollen der nächsten Stromschnellen anschwoll, traf ihn die Erkenntnis wie ein Fausthieb in den Magen: Ich werde beobachtet.
    Er dachte sich nicht: Wir werden beobachtet. Hier ging es nur um ihn. Er verspürte eine intensive Konzentration nur auf sich, und je mehr er sich panikartig umsah, desto weniger konnte er ausmachen, von woher diese Beobachtung ausging. Die rauen Felswände waren zu weit weg, ihre Oberkante zu hoch. Er sah sogar in das dunkle Wasser hinab und erwartete fast, dort die grinsenden Gesichter Ertrunkener zu sehen, während er auf dem Fluss dem Tod entgegenfuhr.
    »Jack, Jim«, verkündete Merritt. »Es geht wieder los.«
    Der Fluss brach tosend auf und spülte das kleine Boot und seine Passagiere in seinen klaffenden Schlund.
    Vielleicht war es der Gedanke, beobachtet zu werden – vielleicht war es der beunruhigende Gedanke, er beobachte sich selber aus der Ferne –, jedenfalls brannte sich jeder Augenblick dieser Erfahrung in Jacks Hirn ein wie eine Fotografie: der Strudel, die Pferdemähne, der Wolf.
    Vor allem der Wolf.
    Als sie in die nächsten Stromschnellen eintauchten, versuchten sie, soweit wie möglich als Team zusammenzuarbeiteten, obwohl Jack klar war, wie schmählich ungeeignet sie für diese Reise waren, die sie antraten. Merritt saß im Bugund führte sie mit seinem improvisierten Ruder. Jim nahm sein Ruder hoch und saß vom Wasser umspült am Boden des Boots, um sein Gewicht so niedrig wie möglich zu halten. Und Jack kniete im Heck, stemmte sich gegen die Pinne und versuchte so gut es ging, das Boot hierhin und dorthin zu lenken. In Wahrheit suchte sich das Boot seinen eigenen Weg durch die Brandung, an Steinen und Felsen entlangschürfend und -schabend. Er spürte, wie das Boot an allen Seiten Schaden nahm, knarrte und knackte und brach, und die Tatsache, dass es noch nicht auseinandergebrochen war, machte ihn stolz.
    Eine merkwürdige Ruhe überkam ihn, die Ruhe eines Mannes, der auf sein Urteil wartete.
    Sie schossen zwischen zwei Felsen hinauf, wo die Wassermassen am größten waren. Hinter den Felsen kippte das Boot vornüber und stürzte einem gewaltigen, wirbelnden Strudel entgegen. Ein Strudel! dachte Jack noch, und dann waren sie gefangen. Die widerstrebenden Strömungen hatten das Boot im Griff, warfen es hierhin und dorthin, von allen Seiten strömte Wasser über sie herein. Jim schöpfte verzweifelt und vergeblich, und Jack hätte laut gelacht, wenn es nicht so furchterregend gewesen wäre. Stattdessen klammerte er sich am Bootsrumpf fest und zermarterte sein Hirn auf der Suche nach einem Ausweg. Er brüllte voll banger Begeisterung, doch das Wasser rauschte so laut, dass er seine eigene Stimme nicht vernahm. Er war patschnass und eiskalt, aber etwas tief in ihm wärmte ihn dennoch.
    Er sah nach links und rechts, die Felswände hoch. Obwohl er glaubte, den Blick immer noch auf sich gerichtet zu spüren, war der Beobachter woanders.
    Das Boot trieb seitwärts. Für eine Sekunde, die sich wie eine Minute anfühlte, kippte es seitwärts, und Jack erwartete schon, dass sie alle in den rasenden Strom geworfen würden. Die Kisten und Bündel würden folgen, sie nach unten drücken, bis der brutale Sog sie über den Boden schleifte, gegen Steine schleuderte, die von Jahrtausenden unter Wasser nur scheinbar weich gespült worden waren. Jack kämpfte gegen das Steuerruder und versuchte, sie aus dem Griff des Strudels zu befreien. Da traf sein Blick den von Merritt, und

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