Die Wildnis
er sah, dass der kräftige Mann ihm nicht so unähnlich war – er ergab sich ihrem Schicksal und war trotz allem froh, es versucht zu haben.
Dann richtete sich die Yukonschönheit auf, richtete die Nase flussabwärts, kurvte vom Strudel weg und setzte die Reise fort. Jack schrie vor Freude auf, und diesmal konnte er sowohl sich, wie seine Kameraden schreien hören.
Sie nahmen wieder ihre Posten ein, schließlich waren sie noch lange nicht aus dem Gröbsten raus. Jack war erschöpft, durchnässt und immer noch eiskalt. Wenn er nicht ständig in Bewegung bleiben müsste, um das Boot in der Mitte des Flusses zu halten, würden die Kleider vermutlich an seinem Körper festfrieren, er würde sogar Frostbeulen riskieren. Doch statt zu frieren, schwitzte er vor Anstrengung. Sein dampfender Körper war ein seltsamer Anblick, doch es begeisterte ihn auch. Es war fast außerirdisch.
Er blickte nach links und rechts auf der Suche nach seinem Beobachter. Er suchte tief in sich hinein, um das merkwürdige Gefühl zu identifizieren, das er verspürte, und fragte sich, ob er sich das nur einredete, dass ihm ein unsichtbarer Beobachter zusah. Doch dann fiel ihm Merritts Bemerkung ein, dassdies ein gruseliger Ort sei. Das brüllende Wasser flüsterte ihm Dinge zu, die er niemals verstehen konnte.
Sie folgten der Schlucht tiefer in die Wildnis auf dem wildesten Abschnitt des Flusses, den man die Pferdemähne nannte. Denn der Fluss bäumte sich wie ein Wildpferd auf und warf ihre Nussschale von Wellengipfel zu Wellengipfel, als sei sie aus Balsaholz und leer. Jack fragte sich, wie viel Gewicht da eigentlich herumgeschleudert wurde, doch er konnte es nicht ausrechnen. Jim starrte ihn mit dem Ausdruck eines fast Wahnsinnigen an, und Jack konnte nur erahnen, was der Mann in ihm sah. Noch einen Wahnsinnigen , dachte er. Vom Fluss nassgespritzt, vom Boot herumgeworfen, habe ich noch die Gier nach Gold in den Augen? Oder habe ich schon den gehetzten Blick eines Verfolgten an mir?
Merritt rief etwas, doch seine Stimme wurde vom Brüllen des Flusses verschluckt. Mit aufgerissenen Augen und sperrangelweit geöffnetem Mund blickte er sich zu Jack um. Jack sah an seinem Freund vorbei nach vorne, wo der rollende Rücken des Flusses zwischen zwei Felsentürmen hindurchgezwängt wurde. Innerhalb weniger Meter verengte sich der Fluss um die Hälfte. Der Wasserdruck und die Energie an dieser Stelle waren enorm.
Einfach dem Buckel in der Mitte folgen , dachte sich Jack und stemmte sich gegen das Ruder.
Das Boot schipperte mitten hindurch, als ob es gar nicht Teil des tosenden Malstroms unter und um sich herum wäre. Doch auf der anderen Seite dahinter, auf einem verhältnismäßig ruhigen Abschnitt, verlor Jack plötzlich total die Kontrolle. Einen Augenblick lief alles noch prima, er steuerte und kontrollierte das Boot, das er gebaut hatte. Im nächsten Augenblickgehorchte das Gefährt ihm nicht mehr. Das Gefühl des leichten Dahingleitens war verschwunden, die Yukonschönheit taumelte seitwärts den Fluss entlang, rollte jeden Wellenberg schaukelnd hinauf und stürzte ins Wellental hinab. Sie wurden völlig durchgeschüttelt. Übelkeit überkam sie. Die Bretter knarrten und krachten, Jim fiel zur Seite, als ein Holzsplitter, so lang wie sein Arm, aus dem Rumpf brach und sein Gesicht zerkratzte. Es blutete, aber Jack erkannte erleichtert, dass es nur ein oberflächlicher Kratzer war. Fünf Zentimeter höher und Jim hätte beide Augen verloren.
»Jack!«, rief Merritt, aber Jack sah nicht zu ihm hin. Er ärgerte sich zu sehr über sich selbst, war zu sehr damit beschäftigt, das Gefährt wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Der Fluss hatte sie in seinem reißenden Griff gefangen, es war nur eine Frage der Zeit, bis es sie und ihr Gepäck ins Wasser kippte oder gegen das raue Ufer donnerte. Beides wäre ihr Ende. Als ihm die Gischt ins Gesicht spritzte, musste Jack blinzeln und dachte, seine Mutter am Esstisch bei ihrem letzten gemeinsamen Mahl zu sehen.
Die Geister werden mit dir sein , hatte sie ihm zum Abschied gesagt und noch mehr von ihrem pseudospirituellen Unsinn, den sie für Zuneigung hielt. Doch nun, da sie ihm wieder in den Sinn kamen, schienen ihm die Worte wie durch die Gischt der Stromschnellen zugeflüstert zu werden.
Jack sah sich um. Dort, am rechten Flussufer auf einem Felsen, an dem das Wasser sich brach, stand ein Wolf. Der größte Wolf, den er jemals gesehen hatte. Sein graues Fell hatte dunkelbraune Punkte, das
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