Die Wildnis
Zelte unser Grab. Vielleicht finden wir eine alte Hütte im Wald, in der wir überwintern können. Doch was essen wir? Unser Proviant reicht vielleicht einen Monat, aber nur knapp. Und was essen wir danach?«
»Das klingt aber gar nicht nach dir, Jack«, bemerkte Merritt leise. Wütend schoss es Jack durch den Kopf: Wie lange kennst du mich denn schon? Auch wenn er mit siebzehn der Jüngste unter ihnen war, schienen seine beiden Freunde ihn schon wie den Anführer zu behandeln. Doch der große Mann hatte recht. Außerdem wusste Jack, dass nichts mehr zusammenschweißt, als gemeinsam durch dick und dünn zu gehen.
Er seufzte und schüttelte den Kopf. »So bin ich normalerweise auch nicht«, gab er zu. »Vielleicht bin ich auch nur müde.«
»Dann lass uns schlafen«, meinte Jim.
Merritt nickte. »Zum Morgengrauen aufstehen und den ganzen Tag fahren. Wir schaffen das schon, Jack, du wirst sehen.«
Jack lächelte und wandte sich ab. Doch das Lächeln verschwand genauso schnell wieder von seinem Gesicht. Er ließ das Feuer hinter sich und wanderte in den Wald, stapfte durch den Schnee, der bald sehr viel tiefer sein würde. Er musste sich erleichtern, doch er hatte auch andere Gründe, das Lager zu verlassen. Er schaute zwischen die Bäume hindurch, schnupperte die Luft und machte die Augen zu, als ob er dann spüren konnte, was ihm da folgte.
Doch falls es ihm folgte, hielt es Abstand.
Den nächsten Tag verbrachten sie auf dem Fluss, doch als sie abends wieder an Land gingen, um zu essen und ihre Sachenüber dem Feuer zu trocknen, waren Merritt und Jim nicht mehr ganz so zuversichtlich. Der Fluss war hier stellenweise schon eine Meile breit, und je weiter sie mit der Strömung paddelten, desto mehr Eis baute sich um sie herum auf. Eisschollen knarrten und krachten aufeinander, und der Fluss hatte einen neuen Klang, wie das Grummeln eines Riesen, der ganz allmählich einschlief.
An diesem Abend übernachteten sie am Ufer. Der Fluss floss brummend und langsam an ihnen vorbei. Doch Jack schwor, dass sie von nun an auf dem Wasser bleiben würden, bis sie Dawson erreicht hatten. Er schätzte, dass es vielleicht noch hundert Meilen sein würden. Was aber ihre Chancen anging, ihr Ziel zu erreichen, ehe der Fluss total zum Stillstand kam …
Na ja, vielleicht hätten sie ja Glück. Doch auch Jim und Merritt waren an dem Abend still. Sie starrten ins Feuer und umklammerten ihre Kaffeetassen. Eis bildete sich auf ihren Bartstoppeln und Wimpern, die Kälte schien sogar dem Feuer die Hitze auszutreiben.
Am nächsten Tag auf dem Fluss musste Jack kaum steuern.
»Da lang!«, rief Merritt und deutete nach vorne links. Jack sah die eisfreie Bahn zwischen den spitz aufragenden Eisklumpen, und der Fluss lenkte sie von selbst in diese Richtung. Wenn sie gegen eine Scholle stießen, schubste sie sie automatisch in Richtung der Strömung. Überall um sie herum knarrte und rumorte es, wenn die Eismassen zusammenstießen. Hier und da konnte Jack noch das beruhigende Geräusch fließenden Wassers hören. Doch der Klang des Flusses hatte sich nun total verändert, und er fürchtete, ihre Zeit wurde knapp.
»Wir schaffen es«, meinte Jim und ruderte, wann immer die Eisklumpen seinen Riemen Platz ließen. Und wenn nicht, mussten sie sich auf die Strömung verlassen, die sie vorantrieb.
»Natürlich schaffen wir es«, sagte Jack. »Die Frage ist nur, wann.«
Das Ufer war nun nicht mehr zu sehen vor lauter Eisklumpen, die zusammenklebten und Formen bildeten, die geradezu außerirdisch wirkten. Das Wasser spritzte an ihnen hoch und fror dort zu Wirbeln und Zacken fest. Ab und zu erblickte Jack noch einen Baum zwischen den treibenden Brocken, aber zumeist sah man nur noch Eis und Wasser. Gegen Mittag begann es zu schneien, und die Sicht wurde ganz schlecht.
Seit Jack den Wolf auf dem Stein gesehen hatte, hatte der sich nicht mehr blicken lassen. Doch Jack konnte nicht länger glauben, dass sie ganz allein in dieser ewigen Wildnis waren. Er hatte zwar keine Ahnung, was dieses Gefühl bedeutete, aber er musste es den anderen mitteilen. Jim, der Lehrer, würde ihn vermutlich töricht finden. Und Merritt, befürchtete er, würde ihn für verrückt erklären.
Vielleicht war er das auch. Doch seit Dyea war er das Gefühl nicht mehr losgeworden, dass etwas da draußen auf ihn wartete. Ihn erwartete.
Am Nachmittag kam die Sonne kaum zum Vorschein, und das Wasser wurde immer träger. Merritt stand am Bug, wehrte die Eisbrocken ab und
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