Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
Vom Netzwerk:
tierischer Furcht und Tod. Er spürte seine Hände und Füße nicht mehr – er war gelähmt, ein Gefangener in einem gefrorenen Stück Fleisch, zu dem sein Körper geworden war. Doch allmählich spürte er Wärme seine Seite hinunterlaufen und sich über seine Brust ausbreiten. Hier und da sickerte sie schon durch seine Kleidung hindurch.
    Zerfleischt, in Stücke gerissen, ohne zumindest die Würde des Erfrierens …
    Dampf stieg von seinem Gesicht und seinem Hals auf. Er schaffte es, den Hals zu recken, und obwohl sein Verstand noch benebelt und träge war, weiteten sich seine Augen. Das Blut, das seine Zunge benetzte und seine Nase füllte, das seinen Hals und seine Brust wärmte, war nicht seins. Sein Herz hatte vielleicht aufgehört zu schlagen. Im Hinterkopf war er sich dessen sogar sicher, doch er hatte keine Ahnung, wie lang und auch nicht auf welche Art und Weise die Kälte dazu beigetragen haben könnte, ihn zu konservieren. Doch der Druck auf seiner Brust kam nicht nur vom Schmerz.
    Die Kaninchen waren aufgerissen, und ihre dampfenden Eingeweide über Jack verteilt und an seinen Armen und Beinen entlang aufgehäuft. Sie hatten ihr Blut über ihn ergossen und bedeckten ihn nun mit einem Haufen von totem Fleisch. Es waren nicht nur Kaninchen, sondern auch andere Tiere darunter. Ein paar Eulen, drei Marder und sogar ein zerfetzer Berglöwe lagen an seiner linken Seite. Ein Anflug von Angst und Ekel überkam Jack, und seine Sicht vernebelte sich wieder.Die geringe Kraft, die ihm noch blieb, war jetzt erschöpft. Er schloss die Augen und überließ sich wieder der Ohnmacht.
    Der Gestank stieg ihm voll in die Nase, der Geschmack in seiner Kehle ließ ihn etwas würgen. Doch übergeben konnte er sich nicht, denn dafür fehlte ihm die Kraft. In der tiefen, ewigen Düsternis des Yukon-Winters betrachtete er die toten Tiere, die auf ihm und um ihn herum lagen. Diejenigen, die von ihm heruntergefallen waren und im Schnee lagen, waren schon steif gefroren, sodass ihr getrocknetes Blut von Eis durchsetzt war. Sie waren durch frische Beute ersetzt worden. Absichtlich. Ihr Leben war geraubt worden, um ihn zu retten, ihr Blut wärmte ihn und – so schrecklich der Gedanke war – ernährte ihn auch.
    Wieder überkam ihn die Dunkelheit, doch diesmal wagte er es nicht, die Augen zu schließen. Wenn er sich nicht bewegte, würde er hier sterben. Das war ihm klar. Hier gab es Fleisch, und im Fleisch war Leben. Man hatte ihm noch eine Chance gegeben. An seiner Hüfte am Gürtel hatte er ein Jagdmesser und einen Feuerstein. Steh auf, Jack. Du musst ein Feuer machen, sonst bist du verloren.
    In seiner rechten Hand kribbelte ein bisschen Wärme. Obwohl seine Finger taub waren, meinte er, das Gefühl von Fell auf seiner gefrorenen Haut zu spüren. Mit großer Konzentration versuchte er, seine Hand zu heben, und schaffte es ein wenig, obwohl seine Gliedmaßen so schwer wie Blei waren. Doch zum Überleben würde er mehr brauchen als taube Knüppel aus gefrorenen Fäusten. Also versuchte er, die Finger zu bewegen.
    Der Schmerz stach ihm wie Feuer in seinen Adern durch die Hand bis zum Ellbogen hinauf. Jack schrie auf, doch der einzige Laut aus seiner Kehle war ein schwaches Röcheln, wieein Todesrasseln. Dieses Geräusch machte ihm mehr Angst als alles andere. Was für ein Ende war das für einen Mann, der mit seinem Verstand und seinen Fäusten gelebt hatte, der jede Furcht, die sich in seinem Herzen regte, verbannt hatte? Nein, das war kein passendes Ende für ihn. Jack wollte die Wildnis bezwingen und würde sich jetzt nicht von ihr unterkriegen lassen.
    Da hörte er etwas. Ein Zweig raschelte ganz in der Nähe. Er wurde starr.
    »Hallo?«, hauchte er. »Ist da jemand?«
    Es kam keine Antwort, aber er spürte es, diese vertraute Gegenwart des Wolfblicks. Mit einem tiefen Atemzug legte Jack den Kopf wieder zur Seite, und dort war er. Er stand mit erhobenem Kopf rechts von ihm zwischen den Bäumen und hatte irgendein kleines Pelztier im Maul. Blut befleckte die Brust des Wolfs. Seine Augen leuchteten im rauchig-düsteren Winterabend.
    Nicht der Tod, sondern das Leben!
    Jack konnte kaum atmen. Früher schien der riesige Wolf ihn aus irgendeiner Geisterwelt heraus anzustarren, aus dem wilden Herzen des Yukons. Nun aber kam er zu ihm getrottet, wobei seine Läufe im Schnee Spuren hinterließen. Seine Mutter hatte von einem Geist gesprochen, der seinen Tod bringen würde, doch Jack hätte auf sein eigenes Herz hören sollen. Dieses Tier

Weitere Kostenlose Bücher