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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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alte Hennen , wollte er sagen, aber seine Stimme versagte. Stattdessen brachte er nur ein Stöhnen heraus. Endlich konnte er sie jetzt sehen, auch wenn seine Sicht noch verschwommen war.
    »Also gut«, sagte Jim. »Hilf mir, ein paar Äste abzubrechen. Wir werden eine Bahre improvisieren müssen …«
    Merritt schnaubte. »Sei nicht albern, der hat schon lang genug hier draußen gelegen.«
    Der große Mann kratzte sich das Eis aus seinem kupferroten Bart und zog sich dann wieder die Fäustlinge an. Er bückte sich und begann Jack von dem darunterliegenden Schnee loszueisen, indem er sich mit Händen und Armenunter Jacks festgefrorener, blutsteifer Kleidung entlangarbeitete.
    »Merritt. Er hat die Augen auf«, stellte Jim fest.
    Merritt erhob sich und blickte mit einem seligen Lächeln auf Jack hinab wie ein gütiger Nikolaus. »Na so was, wirklich. Nur Geduld, Meister London. Bald haben wir Sie wieder richtig aufgewärmt.«
    »Sofern man hier draußen von Wärme sprechen kann«, fügte Jim hinzu, doch trotz der Resignation in seiner Stimme war sein Ton keineswegs niedergeschlagen. »Keine Bange, Jack. Du bist nicht allein.«
    Nein , dachte Jack, während Merritt ihn aus dem Schnee, Eis und Kadavern hob – die Lebensgaben des Wolfs, die von ihm abfielen. Ganz und gar nicht allein.
    Merritt warf sich Jack über die Schulter und stapfte durch den Schnee los. Jeder Schritt versetzte Jack einen Schmerz, als ob seine Knochen aufeinanderknirschten. Sein Verstand vernebelte sich wieder, die Gedanken schossen ihm wie eine erlöschende Kerzenflamme durch den Kopf und gingen aus. Die Stimmen seiner Freunde waren nur noch ein tröstendes Summen, das ihn ins Dunkel begleitete. In der Ferne meinte er ein einsames Heulen zu hören. Doch vielleicht war es auch nur der Wind.
    Jack erzählte später immer, dass Merritt und Jim ihm das Leben gerettet hätten – oder, wenn er in poetischer Stimmung war, dass das Feuer ihm das Leben wieder eingehaucht hätte, sodass er sich vorkam wie Prometheus, als der zum ersten Mal Hitze spürte. Doch tief in seinem Herzen wusste er, dass seine Freunde zu spät gekommen wären, wenn der Wolf ihn nicht mit Blut und Wärme versorgt hätte. Jim und Merritt wusstendas ebenso wie er, aber keiner redete gern darüber, auch als viele Tage vergangen waren.
    Die beiden Männer waren sehr bemüht um ihren jüngeren Gefährten. Sie wärmten ihn nicht nur am Feuer und wickelten ihn in trockene Kleider und Decken, sie massierten ihm auch die Gliedmaßen, um die Durchblutung wieder anzuregen. Wie durch ein Wunder verlor Jack durch die Frostbeulen nur eine Zehenspitze am linken Fuß, die ihm Merritt mit einem kleinen Gemüsemesser entfernte.
    Natürlich hatten sie Fragen, manche davon sprachen sie auch aus – und Jack antwortete so einfach wie möglich, darunter die kurze Geschichte, wie er stürzte und bewusstlos in der Kälte liegen geblieben war – andere Fragen blieben unausgesprochen. Oft tauschten Merritt und Jim Blicke, wenn das Thema aufkam, als würden sie sich beide hüten, sich zu weit vorzuwagen und dann nicht mehr zurückzukönnen.
    Als er sich nach etlichen Tagen erholt hatte, ernährt von getrocknetem Rindfleisch, Dosenbohnen sowie einem kleinen Karnickel, das Jim humpelnd und von irgendeinem Raubtier verletzt vor der Hütte gefunden hatte, stellte Jack schließlich die unausweichliche Frage.
    »Wie habt ihr mich gefunden?«
    Seine Stimme war immer noch tief und rau und seine Zähne schmerzten. Ihm war klar, dass sie alle drei an den ersten Symptomen von Skorbut litten, und immer noch lag der halbe Winter vor ihnen.
    Jim lächelte und warf Merritt einen beunruhigten Blick zu. Seine Brille glänzte im Feuerschein. Er konnte sie nur noch drinnen tragen, denn draußen fror ihm das Metallgestell an der Haut fest, und die Gläser wurden spröde. Er wollte dieeinzige Brille, die ihm blieb, nicht riskieren, nachdem er seine Zweitbrille an Bord der Umatilla auf der Fahrt von San Francisco kaputt gemacht hatte.
    Die beiden Männer saßen auf klobigen Holzstühlen im Vorderzimmer der Hütte, nahe genug am Klondike-Ofen, um ihre Gesichter zu wärmen. Merritt leckte sich über die Lippen in einer Weise, die Jack sagte, dass er sich nach einem Schluck Whisky sehnte. Aber sie hatten keinen. Sie schmolzen Schnee, um Wasser zu bekommen, und machten sich alle paar Tage einen Tee oder Kaffee, um sich die kleinen Freuden, die ihnen blieben, genau einzuteilen. Aber Whisky gab es nicht.
    »Ich hab ihn fast

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