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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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schnell genug. Es gab Schneehasen und Eichhörnchen, doch die waren immer geschickt genug, um zu verschwinden, sobald das Gewehr in ihre Richtung zeigte. Wenn er ehrlich war, ging Jack jedoch nicht zum Jagen vor die Tür. Er ging hinaus, weil irgendetwas in ihm passierte, und je mehr er sich veränderte, desto mehr genoss er es. Er war dabei, sich in diese Wildnis zu verlieben. Die Kälte schmerzte bis auf die Knochen und machte seine Muskeln träge und schwer, aber in ihm drin erwachte eine neue Wärme zum Leben.
    Die Landschaft war unglaublich schön. Er betrachtete sie bald als »Die Große Weiße Stille«, denn wenn er in der Schneelandschaft stehenblieb, hörte er sein eigenes Herz schlagen und seinen eigenen Atem gehen. Es wehte kein einziger Windhauch, als ob die Luft selbst festgefroren war. Das Land schlief unter einem dicken Schneeteppich. Ab und zu schneite es weiter, doch sonst war die Luft kristallklar, und er konnte ewig weit sehen, obwohl die Sonne tagsüber kaum aufging. Und wenn er die Augen schloss und ganz still im Schnee stehenblieb, konnte er spüren, aus welcher Richtung ihn sein Beobachter belauerte.
    Denn er war immer noch da. Jack hatte sich an seine Gegenwart gewöhnt, auch wenn sie ihm immer noch Unbehagen bereitete. Seit dem Vorfall auf dem Fluss hatte er den Wolf nicht mehr gesehen. Doch hier draußen in der Wildnis fühlte es sich eher an wie der Widerhall des Landes selbst, wie ein Ausdruck der Wildnis, die ihn beobachtete – vielleicht wie einenEindringling, sicher nicht wie einen Gleichgestellten. Er kam sich vor, als würde er geprüft. Er fühlte sich unbedeutend, als sei er weniger wert, ein vergessener Atemzug in der leeren Weite. Und für jemanden von solcher Willensstärke war dieses Gefühl seltsam angenehm.
    Manchmal dachte er, es sei der Tod, der darauf wartete, ihn mitzunehmen. Das Ende war immer nahe, das war ihm genauso klar wie seinen Gefährten in der Hütte. Ihre Überlebenschancen wurden jeden Tag geringer. Dann fiel ihm wieder ein, was seine Mutter im Traum gesagt hatte: Unheil im Norden, ein Todesschrei in der großen weißen Stille, und nur die Geister werden Zeuge sein. Er hielt nach diesen Geistern Ausschau und fürchtete sich davor, ihnen in die Augen zu blicken.
    Doch auf eine bestimmte Weise war Jack zufriedener als je zuvor. Hier gehöre ich hin , dachte er, während Wochen und Monate verstrichen. Ich bin hier kein Fremder mehr. Es kam ihm so vor, als habe seine Seele schon immer hier gewohnt, behütet durch den Wolf und wofür dieser stehen mochte, nur hatte sein Körper achtzehn Jahre gebraucht, um hierher zu finden. Vielleicht war das die Erklärung für seine dauernde Wanderlust, die Unruhe, die ihn bis jetzt geplagt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich komplett und richtig. Das gefiel ihm, auch wenn er angesichts der unendlichen Größe dieses Landes ein Nichts war.
    Er war vielleicht nur eine Schneeflocke unter Milliarden, doch endlich begann er herauszufinden, wer er war.

KAPITEL 5

ERWACHEN
    An dem Tag, als Jack London zum ersten Mal starb, kam ohne Vorwarnung der Schnee.
    Es war bei einem seiner Spaziergänge. Sie waren nun schon seit fast zwölf Wochen in der Hütte, und es hatte sich eine gewisse Routine entwickelt. Morgens gingen Jim und Merritt jagen, während Jack sich um die Hütte kümmerte. Er kochte, was auch immer sie gefangen hatten, und wenn sie nichts gefangen hatten, bereitete er eine Mahlzeit aus ihrem schwindenden Proviant zu. Dann unterhielten sie sich bei einer Tasse Kaffee, ehe Jack zu seinem täglichen Spaziergang aufbrach. Die beiden fragten ihn selten danach, was er tat oder wohin er ging, und Jack sagte es ihnen auch nie.
    Doch unter dieser Routine lag die wachsende Gewissheit verborgen, dass sie alle sterben würden. Ihr Proviant reichte nicht mehr weit, und wenn sie einige Tage lang nichts erlegt hatten, wurden sie immer schwächer. Je schwächer sie wurden, desto weniger konnten sie jagen. Die Kälte setzte ihnen mehr zu. Die Dunkelheit wurde ihnen unheimlich. Wenn Jack seinen Freunden in die Augen sah, erkannte er diese Gewissheit, die wie eine Last über ihnen hing, wenn sie sich unterhielten.
    Er kämpfte gegen das Gefühl an, doch die Tatsache, dass er seine Furcht zur Kenntnis nahm, schien seinen Beobachter in der Wildnis näherzubringen. Er suchte nach Spuren im Schnee und horchte nach fernem Heulen. Ein Todesschrei in der großen weißen Stille.
    Er war den Hügel hinaufgestiegen. Hoch oben, außer

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