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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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Und manche Berichte von Flüchen wurden von Männern erzählt, die tatsächlich wie Verfluchte wirkten. Doch darunter waren Geschichten, die noch viel weiter hergeholt waren, von Schneeungeheuern und Walddämonen und Tieren, die aufrecht gingen. Ein kleiner, rattenartiger Mann berichtete mit weit aufgerissenen Augen von Eisbären, die Menschenblut tranken und die Gestalt ihrer Opfer annehmen konnten.
    Ein anderer erzählte vom Wendigo, einem Indianergeist des Nordens, und etliche andere stimmten mit ein. Jack spitzte die Ohren. Während der Überfahrt auf der Umatilla hatte er viel über den Yukon gelesen, unter anderem über seine Sagen. Am meisten fasziniert hatte ihn die Legenden vom Wendigo, weil sie so grotesk waren. Sie begann mit einer Gruppe Männer,die sich im eisigen Norden verirrt hatten, ziellos umherstreiften und langsam verhungerten. Eine schreckliche Vorstellung, aber eine, die bestimmt allzuoft Realität geworden war. Als seine Gefährten alle tot waren, wurde der letzte Überlebende zum Menschenfresser und ernährte sich von den Kadavern seiner Kameraden. Doch damit brachte er einen Fluch über sich und verwandelte sich in den Wendigo, ein ewig hungerndes Monstrum, das von der Wildnis dazu verdammt war, endlose Gier nach Menschenfleisch zu erleiden. Es hieß, dass jeder, der im frostigen Norden das Fleisch eines anderen Menschen oder das eines Wendigos isst, dasselbe Schicksal treffen würde.
    Und diesen ersten Wendigo gab es noch immer, ein Geist des Wahnsinns, der tödliche Gestalt annahm, um das Fleisch und die Knochen von Männern, Frauen und Kindern zu verschlingen. Je mehr er aß, desto größer wurde er, und desto größer wurde sein Hunger, denn er war dazu verdammt, niemals satt zu werden und nach immer mehr zu gieren. Ein tückisches Wesen, schwer zu erkennen. Ein Gestaltwandler, der die Erscheinung anderer Entdecker annahm, um seine Opfer anzulocken. Ein Jäger, ewig auf der Pirsch.
    Auf dem Schiff hatte diese Sage Jack fasziniert, und hier in der verrauchten Bar, umgeben von Hoffnungsfrohen und Hoffnungslosen, alle nach etwas hungernd und gierend, faszinierte sie ihn umso mehr. Er sah die Männer an, die die Sage mehr oder weniger alle kannten, manche davon in der Version, die Jack gelesen hatte. Er fragte sich, wie verzweifelt ein Mensch sein musste, um das Fleisch seiner Freunde zu essen. Diese Kerle an der Bar zum Beispiel. Manche von ihnen schienen so verzweifelt, dass sie alles tun würden, obwohl sie reichlich zu Essen und zu Trinken hatten und auch ein Feuer, um sich zu wärmen.
    Wer konnte schon sagen, was in der Wildnis aus ihnen werden könnte?
    Der Gedanke machte ihm noch mehr zu schaffen als die restlichen beunruhigenden Ereignisse des Tages. Und nach nur wenigen Drinks verließen Jack und Merritt die Bar. Sie gingen wieder durch die Straßen, vorbei an Menschengruppen, die scheinbar ziellos umherwanderten.
    Jack fühlte sich müde und deprimiert und meinte, das sei wohl auch, weil William und Archie nicht in der Dawson Bar aufgetaucht waren. Jack war schon immer eine Kämpfernatur gewesen, und ihre kleine Auseinandersetzung vorhin hatte etwas in ihm geweckt. Er war sich nicht sicher, ob ihm gefiel, was da an die Oberfläche brodelte – nicht nach dieser langen Reise, bei der es nur ums Überleben gegangen war. Er dachte daran, wie sie nach der Eisschmelze stromabwärts nach Dawson gefahren waren, wie er stolz im Heck am Ruder gesessen hatte, als Herr der Wildnis, die ihr Äußerstes getan hatte, um ihn umzubringen.
    Ein Schatten huschte durch seine Gedanken, mit trabendem Schritt und einem grauen Fellstreifen. Jack runzelte die Stirn. Dann hörte er einen schrecklichen Schrei.
    »Was zum Teufel war das?«, wollte Merritt wissen.
    »Es kam vom Hotel«, erwiderte Jack. »Komm.« Das muss der Junge sein , dachte Jack. Hal wollte uns finden, und stattdessen haben sie ihn gefunden, und stellen jetzt weiß Gott was mit ihm an. Er hatte nie wirklich glauben können, dass William drauf und dran gewesen war, Hal den Schädel wegzupusten. Doch vielleicht hatte er es nur nicht glauben wollen. Sie konnten den Jungen auch auf eine ganz andere Weise traktieren. Er hatte gehört, dass die Menschen hier draußenwie Vieh Brandmale von ihren Sklaventreibern verpasst bekommen hatten.
    Er zog im Laufen die Pistole aus dem Gurt und sah Merritt neben sich das Gleiche machen. Das Letzte, was Jack wollte, war, in eine Schießerei verwickelt zu werden. Aber nach dem Vorfall vorhin hatten sie

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