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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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Rachen und Lunge. Er fror von innen, während er von außen kaum etwas spürte. Der Gestank von Dreck und Pferden erfüllte die Luft, doch er war in diesem Weiß bewegungslos gefangen, kein Laut war zu hören. Das ist die wahre weiße Stille, dachte er. Zwischen Schneewehen erblickte er eine vertraute Gestalt. Der Wolf kam auf ihn zugelaufen. Er galoppierte durch den Schnee, der so tief war, dass er bei jedem Satz fast verschwand. Er lief und heulte – obwohl Jack das Heulen nicht hören konnte –, doch er schien nie näher zu kommen.
    Ein Vorhang aus Schnee verdeckte Jack die Sicht, und er fühlte sich plötzlich sehr einsam.
    Ein stetiges, dumpfes Pochen begann so leise, dass er nicht wusste, ob er es fühlte oder hörte. Obwohl er versuchte zu gehen, sich umzublicken, seine Hände anzugucken, war es nur sein Verstand, der den Schneesturm spürte, nicht seinKörper. Ich träume , dachte er, doch auch das fühlte sich nicht richtig an.
    Wieder erblickte er den Wolf, der sich durch den Schneesturm kämpfte. Er schien näher zu sein als zuvor, aber er hörte ihn immer noch nicht. Er versuchte zu rufen, doch der Wolf schien ihn auch nicht zu hören. Es gab nur noch den Schnee und das stetige Poch … Poch … Poch …
    Dann ein Aufprall und Lärm. Unter den Lärm mischten sich leisere Schläge von weiter weg zu den Rhythmen, die seinen Körper und seine Sinne anzugreifen schienen.
    Der Schnee begann sich bräunlich zu färben. Er schmolz und mit ihm die leere Landschaft dahinter, das Geräusch und das Gefühl von Schlägen wurde deutlicher.
    Er hörte lautes Wolfsgeheul, so vertraut und real, als könnte er die Hand ausstrecken und danach greifen. Er roch Pferde, machte die Augen auf und sah drei Männer vor sich, die auf einen dicht bewaldeten Hügel zumarschierten. Das Pferd, auf das Jack gebunden war, trottete ihnen hinterher. Es lag kein Schnee: Der schreckliche Sturm hatte nur in seinem Kopf stattgefunden.
    »Das klingt nah«, sagte einer der Männer.
    »Ja, aber man sieht sie trotzdem nie«, erwiderte der andere. Er sah zu Jack nach hinten: Es war Archie. »Na, wen haben wir denn da? Schon wach?«, fragte Archie. »Warte mal, Stan! Hier ist wieder einer, der selber laufen kann.«
    Das Pferd blieb stehen, stampfte ein paar Mal mit den Hufen auf, und jeder Schritt dröhnte ihm ins Hirn. Archie band ihn los, riss ihm die Seile über seine Hüfte und Arme fort und flüsterte ihm die ganze Zeit ins Ohr. »Jetzt bist du dran, Jack, jetzt bist du dran, jetzt kannst du mal herausfinden, wie hartdu wirklich bist, wie zäh, und jetzt, wo du wach bist, freue ich mich auf jede einzelne Minute an jedem Tag, du kleine Missgeburt.«
    In Jacks Arme brannte es wie von tausend Nadelstichen, er stöhnte, als sein Kreislauf wieder durch seine Schultern in die Arme und Hände zu strömen begann. Er wusste nicht genau, ob seine Haut nur brannte oder erfroren war.
    Archie stieß ihn vom Pferd.
    Jack drehte den Kopf zur Seite, um damit nicht auf den Boden zu knallen, trotzdem raubte ihm der Aufprall den Atem. Er rollte sich auf den Rücken, starrte in den klaren blauen Himmel und fragte sich, wie etwas so Schönes in dieser Hölle existieren konnte, in der er eben aufgewacht war.
    »Aufstehen!«, befahl Archie und trat Jack gegen den Oberschenkel. »Mach dich mal nützlich. Hoch mit dir, aber dalli!«
    Ganz vorsichtig versuchte Jack zu gehorchen. Er schloss die Augen wegen der fürchterlichen Schmerzen, die in seinem Kopf dröhnten. Es fühlte sich so an, als sei jeder Zentimeter seines Körpers ausgepeitscht, zerhackt, gekocht und erfroren worden. Er wusste, es würde eine ganze Weile dauern, bis er seine Wunden alle gezählt hatte.
    »Steh auf, sonst schlitz ich dir den Bauch auf und werf dich den Wölfen zum Fraß vor.« Archie klang so, als ob er es ernst meinte. Jack sah sich um. Sie waren in den Hügeln, bewaldete Hänge stiegen über ihnen empor, und irgendwo links rieselte ein Bach. Von Dawson City war nichts mehr zu sehen. Er sah Männer, die Gewehre und sonst nicht viel anderes trugen, Pferde und Hunde, sowie andere Männer, die große Lasten schleppen mussten. Manchen waren die Füße so eng zusammengebunden,dass sie gerade noch laufen konnten. Durch seinen Schmerzschleier hindurch begriff er, was mit ihm passiert war: Sie hatten ihn entführt, versklavt, und im Moment war er ihnen ausgeliefert. Außerdem war ihm klar, dass Archie es in der Tat ernst meinte. Hier, weit weg von den letzten schäbigen Überresten der

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