Die Wildnis
Mädchen muss wahnsinnig sein .
Er machte die Augen zu und beruhigte sich mit tiefen, langsamen Atemzügen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Er befeuchtete mit der Zunge seine trockenen, aufgeplatzten Lippen, bebte, mit dem Mädchen auf sich, lauschte dem Grunzen und Geifern des Wendigos und hörte zwischen diesen Lauten ein leises Kichern, wie die geheimen Freuden eines Verrückten. Irgendwann war dieses Monster ein Mensch gewesen, sein unersättlicher Hunger entsprang den tiefsten Abgründen der seelenlosen menschlichen Triebe.
Das Monster suchte nach ihnen. Es schabte an Wurzeln und pochte gegen Baumstämme. Doch seltsamerweise, obwohl sie offen dalagen, nur von Fellen bedeckt, und die Dämmerung mit jedem Augenblick mehr der Morgenröte wich, konnte der Wendigo sie nicht entdecken.
Völlig ungläubig, als ob jeden Moment ihr Glück ein Ende haben würde, machte Jack die Augen auf und sah das Mädchenan. Sie kam ihm unglaublich schön vor wie nicht so ganz von dieser Welt. Sie neigte den Kopf etwas zur Seite, ihre Augen funkelten leicht belustigt. Wieder presste sie ihm einen Finger auf die Lippen, damit er still blieb, doch dann strich ihm dieser Finger über den Bart, der ihm während der Reise gewachsen war.
Ihr unmögliches Versteck zu zweit war wie Zauberei.
Er spürte die Gegenwart des Wendigos, als sei seine bloße Existenz genug, um Jack dort gefangen zu halten. Doch dann hörte er Vögel zwitschern, ihr Gesang mischte sich mit der hungrigen Pirsch des Ungetüms, und dessen Geräusche veränderten sich auch. Der Wendigo knurrte verwirrt, vielleicht wunderte er sich, die Fährte verloren zu haben, der er die ganze Nacht gefolgt war. Oder möglicherweise beunruhigte ihn der anbrechende Morgen, denn solch ein Ungeheuer war sicher eine Kreatur der Finsternis.
Äste knackten und Vögel flogen alarmiert auf, doch Jack hörte, wie die Schritte sich entfernten, und nun war klar, dass das Monster die Jagd aufgegeben hatte.
Bald hörte er nur noch die Vögel und den Wind und das sanfte Atmen des Mädchens. Er spürte nur noch das Pochen ihrer Herzen und den Schmerz, der in Wellen wieder über ihn hereinbrach.
»Jetzt habe ich dich«, hauchte sie. »Bei mir bist du in Sicherheit.«
Sie küsste ihre Fingerkuppen und berührte damit seine Stirn wie bei einem Segen. Eine Segnung. Dann warf sie die Felle ab, und er musste im gleißenden Morgenlicht die Augen schließen, was er als sehr angenehm empfand.
Sein Körper verlangte nach Ruhe. Mit dem Mädchen an seiner Seite, die zärtlich seine Haare streichelte und ihm Dingein einer Sprache zuflüsterte, die wie keine klang, die er je im Land des Nordens gehört hatte, ließ er sich endlich fallen. Als ihn die Bewusstlosigkeit überkam, schoss ihm nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Er fragte sich, wie dieses Mädchen, dieses zarte Geschöpf, ihn aus der Schlucht, wo er gelegen hatte, zu dieser Lichtung mit den vier Bäumen getragen haben konnte.
Dann verstummten seine Gedanken, der Vorhang seines Verstandes ging zu, das Licht in seinem Kopf verlosch. Nur süßes Vogelgezwitscher und die Berührungen ihrer zarten Hände geleiteten ihn in die Dunkelheit.
Er wachte in einem Märchen auf.
Zuerst spürte er nur das Fell an seiner Wange, doch als das Bewusstsein langsam zurückkehrte, merkte er, dass ihm – zum ersten Mal seit Tagen – warm war. Wärmer sogar, als damals in der Dawson Bar. Jack fühlte sich sogar wärmer, als es je seit vergangenem Sommer in San Francisco der Fall gewesen war. Er lag auf dem Fell und genoss die Wärme.
Er machte die Augen auf und sah einen offenen Kamin vor sich, in dem ein Feuer loderte. Er befeuchtete mit der Zunge seine trockenen Lippen. Seine Gesichtshaut fühlte sich trocken und straff an in der strahlenden Hitze des Feuers, und jede Bewegung, jedes Zucken verursachte ihm Schmerzen. Trotzdem lächelte er und zog die Decke bis unter sein Kinn hoch – denn jemand hatte ihn im Schlaf zugedeckt.
Nun war er völlig wach und merkte, dass ihm tatsächlich zu heiß war. So absurd die Vorstellung auch war, warf er dennoch die Decke ab und freute sich über den kühlen Windhauch, der über den Fußboden strömte.
Jack setzte sich auf und sah sich um. Steif und schmerzgeplagt, wie er war, fühlte er sich, als wäre er hundert Jahre alt. Doch sobald er seine Umgebung wahrnahm, war sein Schmerz vergessen. Zu Hause hätte er das hier für eine sehr schlichte Hütte gehalten, aber hier im rauen Yukon war es beinahe
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