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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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drehte und dort die Bäume aufragen sah. Es war aber nicht derselbe Wald, in dem er sich zuvor versteckt hatte. Den hatte er schon hinter sich gelassen. Wie weit war er gelaufen? Mindestens einen Kilometer, aber immer noch hörte er das Schnüffeln und Knurren des Wendigos.
    Das Gebrüll kam über ihn wie ein Windstoß, wehte feucht und kehlig gegen seinen Rücken, viel näher als vorhin … und er wusste, der Wendigo hatte das Lager verlassen. Jack versuchte, sich dieses schwarze Maul vorzustellen, mit Blut und Gedärmen verschmiert, er öffnete den Mund und gab einen tonlosen Schrei von sich.
    Lauf, Junge, lauf!, sagte er sich. Es entging ihm auch nicht, dass er für diesen Augenblick des absoluten Grauens sein Selbstbewusstsein als Mann verloren hatte und sich selber mit den Augen der restlichen Welt betrachtete, die nur sein Alter sah. Ein Junge.
    Und das akzeptierte er nicht.
    Er hatte der Wildnis getrotzt, war in ihrer Umarmung gestorben und lebte trotzdem. Er hatte die Natur herausgefordert, ihm ihr Schlimmstes anzutun, und dennoch überlebt. Jack hatte den Sieg nicht nur aus den Klauen der Niederlage, sondern aus dem Griff des Todes selbst an sich gerissen. Er war nicht einfach ein Junge.
    Er lief immer weiter. Die Nacht umhüllte ihn und wich immer wieder zurück, wenn er aus dem Schatten in den Mondschein lief. Äste peitschten ihm ins Gesicht, sobald er in den Wald eintauchte. Auf steinigen Abhängen und Anhöhen stolperteer mehrmals, knallte auf die Knie und schürfte seine Hände auf. Und wusste schon, bevor er wieder aufstand, dass seine Blutspur eine Fährte hinterlassen würde, der der Wendigo mit Leichtigkeit folgen könnte.
    Dennoch gab er nicht auf. Wenn er langsamer wurde, fiel es ihm kaum auf. Die frostige Nacht ließ ihn bis auf die Knochen frieren, sein leerer Magen verknotete sich zu einer schmerzhaften Faust, seine kaputten Rippen ächzten. Vor Schmerz biss er die Zähne zusammen. Als er schließlich den Wendigo wieder brüllen hörte – vielleicht war es auch nur das Heulen des peitschenden Windes –, schien er weiter weg zu sein.
    Und ständig lief der Wolf voraus oder kam wieder zu ihm zurückgeeilt. Er knabberte an seinen Händen, wenn er schwächelte und ihn die Dunkelheit am Rande seines Bewusstseins zu überwältigen drohte. Dreimal stolperte und schwankte er mit gesenktem Kopf, am ganzen Körper zitternd, und drei Mal schnappte sich der Wolf seine rechte Hand mit dem Maul. Seine Reißzähne stachen ihm in die Haut, weckten ihn und zerrten ihn vorwärts, bis er wieder humpelnd und mit knirschenden Knochen zu laufen begann.
    Wie weit war er gekommen? Meilenweit sicherlich, in keine bestimmte Richtung.
    Und dann, mit halb geschlossenen Augen, verlor er einen Moment lang die Spur des Wolfes und hielt auf das niedrig stehende goldene Auge des Mondes zu. Ein Fuß vor den anderen – links, rechts, links –, bis der Boden plötzlich unter seinen Füßen verschwand. Er setzte seinen rechten Fuß ab, aber da gab es keinen Boden mehr. Seine Ferse fand etwa einen halben Meter tiefer als erwartet Halt, doch es war zu spät. Sein Schwung trug ihn über den Rand einer Schlucht, und er stürzte, mit denArmen wild in der Luft rudernd, den steinigen Abhang hinab, bis er unten aufschlug.
    Jack versuchte, sich zu erheben, aber dieses Mal verweigerte sich sein Körper. Der eisige Wind peitschte die Schlucht hinauf, und er zitterte, doch dann versagten ihm sogar solche reflexhaften Reaktionen.
    Er hörte in der Nähe den Wolf heulen, konnte aber diesem Ruf der Wildnis nicht folgen. Diesmal nicht. Er lauschte nach einem Brüllen, das die Antwort des Wendigos signalisieren würde, und schwebte so in die Bewusstlosigkeit.
    Am Rande seiner Wahrnehmung formierte sich die Dunkelheit, und er konnte nicht anders, als sich ihrer Umarmung hinzugeben.
    Er wachte mit Schmerzen auf. Wie hundertmal zuvor, wenn er verletzt oder betrunken orientierungslos aus dem Schlaf aufgewacht war, wurde ihm wieder alles klar, sobald er die Augen aufmachte. Der Schmerz hielt seine Erinnerung wach. Seine Gedanken waren so klar, die Orientierungslosigkeit, die er während seiner Flucht vor dem Wendigo gespürt hatte, war so weit weg, dass er einen Moment lang bezweifelte, jemals das Bewusstsein verloren zu haben.
    Dann sah er das Mädchen, und die Welt geriet wieder aus den Fugen.
    Er fühlte ein weiches Fell an seiner Wange, doch es war nicht der windschnittige Pelz des Wolfes, auf dem er lag. Stattdessen war er wie ein Kleinkind

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