Die Wildnis
zum Wärmen in Tierhäute gewickelt, die plüschigen Pelze fühlten sich auf seinem geschundenen, geschlagenen Körper wunderbar weich an. Ein Quartett aus Bäumen bildete ein stummes Publikum, und durch die Ästehindurch sah er, wie der Himmel als Vorahnung der Dämmerung heller wurde.
Das Mädchen stand neben einem der Bäume und beobachtete ihn wie ein schüchternes Kind, das sich hinter dem Rockzipfel der Mutter versteckt. Ihre schwarzen Haare hingen ihr über die Schultern, so fein wie Seidenfäden, und im ersten Hauch des Morgens funkelten ihre Augen wie neue Kupfermünzen in den feinen Konturen ihrer exotischen Züge. Sie trug Stiefel wie die der Einheimischen und dazu ein elfenbeinfarbenes Kleid, sonst nichts. Trotz der Kälte hatte sie weder Jacke noch Mantel an, und obwohl sie atmete, sah er ihren Atem in der kühlen Frühlingsluft nicht.
Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie so eine schöne Frau gesehen. Sie war vielleicht sechzehn oder auch zwanzig, er konnte es nicht sagen. Bei ihrem Anblick musste er sich fragen, ob er wirklich so klar bei Verstand war, wie er eben noch gedacht hatte.
Er atmete gleichmäßig und mühelos, und obwohl er den Schmerz in seinen Rippen noch spürte, kam er ihm plötzlich weit weg vor. Ein seltsamer Geschmack erfüllte seinen Mund. Er tastete mit der Zunge und bemerkte eine körnige, erdige Substanz darauf. Jack spuckte aus, und ein üppiger Geruch erfüllte seine Nase. Es schmeckte nach Kräutern.
Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite wie ein neugieriger kleiner Vogel. Er begriff, dass sie das gewesen war, die ihm die Kräuter in den Mund getan hatte – als Heilmittel vielleicht? Oder war es jemand anderes gewesen? Sicherlich konnte hier mitten in der Wildnis kein wunderschönes Mädchen – unglaublich, atemberaubend schön – so ganz allein ohne Mantel herumlaufen?
Er versuchte, sich aufzurichten und sich umzusehen, aber er hatte nicht genug Kraft. Seine Arme trugen ihn nicht, und sein gebeutelter, geprügelter, geschundener Körper heulte bei der leisesten Anstrengung vor Protest auf. Einen Augenblick lang flatterten seine Augenlider, doch er zwang sie, offen zu bleiben. Er weigerte sich, wieder das Bewusstsein zu verlieren, nun, da er es wieder erlangt hatte.
Er lag auf der Seite, ließ seinen Kopf zur Seite rollen und suchte die Bäume und Landschaft nach Anzeichen anderer Stammes- oder Familienmitglieder ab, die zu dem Mädchen gehören konnten, doch er sah niemanden.
»Wer bist du?«, krächzte er mit heiserer Stimme. »Hast du …?« Er fuhr mit zitternder Hand über die Felle, mit denen er zugedeckt war. »Hast du das getan, mich hierhergebracht?«
Sieben Meter entfernt kam das Mädchen nun hinter dem Baum hervor, wobei sie jedoch eine Hand auf seinem Stamm ließ, als beziehe sie daraus Trost. Sie lächelte ihn an, und er sah solch eine natürliche Unschuld in ihr, dass es ihm nur vom Hinsehen das Herz brach. Er verfluchte seine Schwäche und Verletzungen, weil er nicht auf der Stelle aufstehen und zu ihr gehen konnte.
Jack hatte keine Maßstäbe, um Liebe zu erkennen. Er war schon ein- oder zweimal verknallt oder fasziniert gewesen von einem Mädchen, sogar hypnotisiert. Aber noch nie verliebt. Auch jetzt dachte er nicht, dass es Liebe war, was er verspürte. Es war mehr das schiere Staunen.
Er musste ihr Lächeln aus seinem Kopf verbannen. Im selben Augenblick, in dem seine Augen geschlossen waren, dachte er an den Wolf, das Geisterwesen, das er für seinenSchutzengel hielt. Der Wolf hatte ihn in Sicherheit gebracht, doch nun, da der Himmel im Osten die schwarzblaue Nacht mit dem ersten Licht der Dämmerung vertrieb, war das Tier nirgends zu sehen.
Nur das Mädchen. Es fiel ihm auf, wie merkwürdig es war, dass sie keinen Mantel trug, nur dieses Leinenkleid und die Stiefel, und für einen Moment sorgte er sich, dass mit seinem Verstand etwas nicht in Ordnung wäre. Bildete er sich das nur ein? Könnten der Wolf und das Mädchen ein und dasselbe Wesen sein?
Sie lachte leise und hob eine Hand vor ihren Mund, als hätte sie seine Gedanken gelesen oder zumindest die Frage in seinen Augen gesehen.
Jack merkte, wie er wieder wegglitt und das Bewusstsein verlor. Was auch immer sie ihm gegeben hatte, es war nicht genug, um gegen die Erschöpfung anzukommen, die ihn aussaugte, die Ruhe und Erholung, die sein Körper nach der Misshandlung dringend benötigte. Er hatte von Pferden gehört, die tot umgefallen waren, weil man sie zu lange und zu hart
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