Die Wildnis
geritten hatte, und er vermutete, dass es Menschen bei zu großer Belastung genauso ergehen konnte. Er spürte den Tod zwar noch nicht in der Nähe lauern, doch sein Körper schien reif, sich zu ergeben. Ohne Hilfe, ohne Nahrung, ohne Schutz vor den Elementen würde er hier draußen sicher sterben.
Oder auch nicht. Das hing von diesem Mädchen und ihrem Stamm ab.
Doch von einem Stamm war immer noch keine Spur zu sehen.
»Wer bist du?«, fragte er wieder.
Der Wind drehte wieder, ein Windstoß ließ die Äste überseinem Kopf rauschen, und Jack erstarrte. Der Wind trug einen vertrauten Geruch zu ihm: der ekelerregende Gestank von frischem Blut und fauligem Fleisch, den er vergangene Nacht kennengelernt hatte, Auge in Auge mit dem verfluchten Teufel des Yukon.
Das Mädchen erstarrte ebenfalls, ihre Nasenflügel weiteten sich, ihre Augen auch und sie spannte die Beine ein wenig an. Als er sie anstarrte, musste er an ein scheues Reh denken, dass kurz vor der Flucht stand.
»Lauf«, sagte er. Er schluckte kräftig. Was auch immer sie ihm in den Mund getan hatte, es schmeckte wie Zimt. Furcht und Entsetzen hatten ihn ausgelaugt, er wusste, dass er nicht mehr die Kraft hatte wegzulaufen. Jemand hatte ihn in der Nacht bewegt und hierhergebracht, doch der Wendigo hatte seine Fährte aufgespürt und war schon nah.
Nah genug, ihn zu riechen.
Jack fühlte sich merkwürdig von sich selbst losgelöst. Wenn die Wildnis ihn an diesem frostigen Frühlingsmorgen holte, dann sollte es so sein. Er würde sich zwingen aufzustehen, und wenn er noch die Arme heben konnte, würde er kämpfen und hier sterben – als ein weiteres Opfer des Wendigo.
Es brüllte in der Ferne.
»Lauf, verdammt noch mal!«, befahl er dem Mädchen heiser.
Sie lief aber nicht weg. In drei Pulsschlägen war sie bei ihm und fiel auf die Knie. Sie hielt ihm mit der linken Hand den Mund zu und machte Psst! Jack wollte sich wehren. Er hörte den Wendigo jetzt kommen, unweit von ihnen knisterten und knackten die Zweige der Bäume. Er musste ganz in der Nähe sein, denn Jack glaubte, schon sein tiefes Knurren zu hören und das Klackern seiner Zähne in dem geifernden Maul.
Dummes Ding. Was hatte sie nur vor? Er wollte sie anflehen und anschreien, damit sie fortlief.
Er zwang sich auf die Knie hoch, wankend, und schaffte es, einen Fuß unter sich zu setzen. Der plötzliche Schmerz schwappte mit solcher Wucht über ihn, als hätte er durch unsichtbare Schläge jeden einzelnen blauen Fleck neu verpasst bekommen. Zähneknirschend und ganz bewusst atmend, da er sonst befürchtete, kotzen zu müssen, begann er sich zu erheben.
Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Anstrengendes machen müssen.
Doch das Mädchen zog ihn wieder zu Boden. Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. Er wollte sie anschreien, ihr sagen, dass der Wendigo sie beide umbringen würde. Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr seine Lunge, als er zu Boden ging, doch das Mädchen blieb nicht liegen, sondern rollte ihn wieder in die Felle ein, in die sie ihn schon in der Nacht eingepackt hatte. Nun deckte sie sie beide damit zu, kletterte auf Jack, als ob sie ihn mit ihrem Körper schützen wollte. Sie war so nah, so vertraut, ihr Atem an seinem Hals so herrlich warm, ihr ganzer Körper roch nach Zimt.
»Nein«, wisperte er.
Sie fixierte ihn mit einem Blick, der ihn besänftigte, ein Blick voller Weisheit und Sicherheit. »Sei still«, sagte sie. Er staunte, dass sie seine Sprache konnte.
Jack schwieg.
Gemeinsam lagen sie unter den Fellen, ihre Herzen klopften so nah beieinander. Trotz all seiner Schmerzen, all seinem Entsetzen, zitterte er beim Gefühl ihrer Nähe, ihres Körpers so eng an seinem. Und diesmal nicht aus Angst.
Dann röhrte der Wendigo wieder, jetzt so nah, dass er in der Lichtung zwischen diesen vier Bäumen sein musste, direkt über ihnen. Das Licht des Morgens hätte ihn vielleicht endlich beleuchtet, den mysteriösen schwarzen Umhang abgeworfen, der ihn umgab. Allerdings befürchtete Jack, das Ungeheuer sei mehr ein Geist als Materie, ein fleischgewordener Fluch. Und sehen wollte er ihn gar nicht.
Beim Gestank der Bestie würgte es ihn. Er biss sich auf die Unterlippe, damit er sich nicht übergeben musste und keinen Laut von sich gab. Der Wendigo würde jede Sekunde die Felle wegreißen, sie packen und mit diesen krummen Klauen zerfetzen, ihr Fleisch abreißen und an ihren Knochen nagen. Hier sollen wir uns verstecken, zitternd unter einer Pelzdecke? Das
Weitere Kostenlose Bücher