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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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musste er lächeln. Die Stunden, die er in Dawson City verbracht hatte, hatten in ihm kein wirkliches Vertrauen inden dortigen Grad der Zivilisiertheit ausgelöst. Aber im Vergleich zu hier – vermutlich weit weg von selbst der kleinsten Siedlung, ein winziger Fleck menschlicher Ordnung inmitten des Chaos der Wildnis – kam Dawson ihm vor wie eine leibhaftige Metropole.
    Jack hatte die Herausforderung des Yukon-Trails bestanden, die Grausamkeit der Menschen überlebt. Er hatte die Elemente bezwungen und die Strapazen der Wildnis gemeistert. Doch als er losgezogen war, um die Wildnis zu besiegen, zu reifen und zu beweisen, dass der Mensch stärker war als die Naturgewalten, hatte er sich nicht im Traum verstellen können, was ihm alles unterwegs begegnen würde. An Bord der Umatilla war der Wendigo nur eine Legende gewesen. Aber in der weißen Stille des hohen Nordens wurden Legenden leibhaftig und furchterregend echt.
    Sogar jetzt, während er einen Weg entlanglief, der extra für ihn gemacht schien, die Bäume links und rechts wie die Auffahrtsallee einer großen Villa aufgereiht, erschauderte er beim Gedanken an das Blutbad in jener Nacht im Lager. Die Schreie der Männer hallten in seinem Kopf. Er konnte den Anblick des Wendigos nicht abschütteln, halb unsichtbar in der Dunkelheit und im Mondschein, wie er die Männer gepackt und in Stücke gerissen hatte, um sich an ihren Eingeweiden zu laben.
    Wenn es nur ein Tier gewesen wäre, wäre es nicht so schlimm gewesen. Doch er hatte ihn aus der Nähe gesehen, wie er die Gestalt seines Spiegelbildes angenommen und durch die Schatten marschiert war. Kein Wesen aus Fleisch und Blut war zu so etwas in der Lage. Nein, der Wendigo war mehr als das. Er war verflucht, ein Mythos, ein Produkt irgendeines schrecklichen Zaubers.
    Ein Frösteln überlief Jack und er blieb stehen. Der Wind fühlte sich noch warm an, doch als er sich umsah, erkannte er, dass ihn der Weg immer tiefer in die dunklen Schatten geführt hatte, wo das Laub der Bäume über ihm immer dichter wuchs. Er blickte sich um, sah einen hellen Sonnenfleck und machte sich in diese Richtung auf. Er versuchte, sich zu merken, in welcher Richtung sich die Blockhütte befand.
    Etwa zehn Minuten lang verdrängte er alle anderen Gedanken und lief einfach weiter. Zweige knackten unter seinen Stiefeln, manchmal fühlte sich die Erde weich an, obwohl es nicht geregnet hatte, seitdem er in Lesyas Hütte aufgewacht war.
    Ein Birkenhain leuchtete im Sonnenlicht, aber an vielen der Birken fehlten die Blätter, obwohl es Frühling war. Sie waren nicht tot, aber gediehen einfach nicht so gut wie der übrige Wald und hatten bei weitem nicht die Kraft und den Saft der Apfel- und Birnbäume im Garten hinter Lesyas Haus.
    Jack fragte sich, ob Lesya die Bäume wohl heilen könnte. Nur ein Narr hätte bestritten, welche Wirkung sie auf ihre Umgebung hatte, so üppig wie die Blumen und Pflanzen wuchsen. Selbst Jack war unter ihrer Fürsorge wieder zu Kräften gekommen, auch wenn das seiner Meinung nach mindestens soviel mit ihren Kochkünsten zu tun hatte wie mit dem Zauber, der das Holz ihrer Hütte am Leben hielt.
    »Schlag sie dir aus dem Kopf«, sagte er sich.
    Der Wind in den Blättern schien ihm zu antworten.
    Die Existenz von Zauberkräften zu akzeptieren war ihm nicht leicht gefallen, nicht zuletzt wegen der belastenden Gefühle, die der Spiritismus seiner Mutter bei ihm hervorrief. DieDinge, an die sie angeblich glaubte, hatten den Tod und die Toten ganz nahe zu ihm und in sein Zuhause gebracht und ihn verwirrt und verschreckt. Er erinnerte sich noch an eine Gaslampe und die beschwörende Stimme seiner Mutter, die ihren eigenen Schutzgeist anrief und andere finstere Wesen in ihre Küche einlud.
    Eines verregneten Abends lag die Lampe in bunten Splittern am Küchenboden. Die Rosen auf dem Glas waren so bunt wie die Blumen in Lesyas Garten gewesen. Jack hatte die Lampe nicht angefasst, dennoch hatte sie sich bewegt, und seine Mutter hatte ihm die Schuld gegeben. Sie hatte ihn dafür bestraft.
    Dafür verflucht .
    Er hatte für Spiritismus nur Verachtung übrig. Er verachtete das ganze theatralische Getue, das damit verbunden war, und die Anmaßung der Leute, die den Spiritismus für sich in Anspruch nahmen. Zauberkräfte waren für ihn kaum etwas anderes, als die Art esoterischer Scharlatanerie, die seine Mutter praktiziert hatte, um Witwen und trauernde Töchter um ihr Geld zu bringen. Er hatte Zauberei deshalb aus den

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