Die Wildnis
gleichen Gründen wie den Spritismus abgelehnt und verachtet.
Bis jetzt.
Seit er als kleiner Junge von der großen weiten Welt erfahren hatte, sehnte er sich danach, ihre Rätsel zu lösen, exotische Häfen und geheime Kammern zu besuchen und Meeren und Gipfeln zu trotzen. Nun war er allerdings gezwungen, die Existenz einer viel weiteren, unbekannten Welt einzuräumen. Um ihn herum waren Kräfte am Werk, die mit Wissenschaft nicht zu erklären waren, aber dennoch ein Teil der Natur zu sein schienen. Er empfand Lesyas Zauberkräfte nämlich alsetwas sehr Natürliches. Sie selbst sah es auch so und verstand offenbar nicht einmal, was er mit »Zauberei« eigentlich meinte.
Lächelnd setzte er sich zwischen die sterbenden Birken und lehnte sich an den robustesten Stamm. Er schlug das Buch auf und vertiefte sich in Dumas’ Graf von Monte Christo . Obwohl diese Art Melodram ihn meistens nicht ansprach, hatte Jack das Buch vor einigen Jahren gelesen und wusste immer noch genug, um trotz seiner mageren Französischkenntnisse vielleicht etwas davon zu verstehen.
Der Versuch misslang gründlich. Egal, wie sehr er sich konzentrierte, die Seiten nach bekannten Wörtern absuchte und die Sätze aus seinem Gedächtnis in Zusammenhang zu bringen versuchte, er musste bald eingestehen, dass heute nicht der Tag war, an dem er sich Französisch beibrachte.
Nach etwa zwanzig Minuten dieser fruchtlosen Mühen verlor er endgültig die Geduld und stand auf. Die Sonne schien jetzt hoch vom Himmel, und die Wärme tat Jack gut. Die Nächte waren immer noch kalt, und noch einen Winter im Yukon wünschte er sich nicht. Aber der Frühling war in Ordnung.
Mit dem Buch in der Hand sah er in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und beschloss sofort, sich noch weiter in den Wald zu wagen, anstatt umzukehren. Wenn das Buch ihm schon keine Ablenkung verschaffte, würde er sich sein Abenteuer eben außerhalb des Buches suchen. Vielleicht würde er das Ende des Waldes finden und sich ein Bild machen können, wo er sich eigentlich befand. Bestimmt waren sie kaum mehr als fünf bis zehn Kilometer vom Lager am Fluss entfernt, wo er und seine Mitgefangenen nach Gold geschürft hatten?
Bei dieser Überlegung fiel Jack Merritt ein, und seine Laune verschlechterte sich rapide.
Wesentlich finsterer machte er sich, zumindest seiner Schätzung nach, in östliche Richtung auf den Weg. Im Unterholz und im Blattwerk über ihm raschelte es. Tiere flohen vor ihm. Je weiter er vorankam, desto beschwerlicher wurde der Weg. Wurzeln und Steine ragten aus dem unebenen Boden, die Bäume wurden immer dichter, sodass er sich bald unter Ästen hindurchducken musste, einige Kratzer abbekam und mehr als einmal stolperte.
Er schaffte es, nicht hinzufallen, aber der Wald war so dicht, dass er fast undurchdringlich erschien. Ihm wurde klar, dass es keinen Sinn machte weiterzugehen, vor allem, da er den Waldrand nicht finden konnte und nicht immer tiefer in den Wald hineingehen wollte. Er änderte die Richtung. Doch kaum zehn Minuten später begegnete er einem ähnlichen Hindernis. Der Weg war frei gewesen, man konnte leicht zwischen den Bäume durchlaufen, doch nun fand er sich wieder von dichtem Geäst umgeben.
Wieder erschauderte er, doch diesmal mischte sich ein schleichender Verdacht in seinen Schauder. Er sah sich um, erblickte jedoch nur die Schatten der Äste und das goldene Funkeln, wo die Sonne noch hindurchdrang.
Er war allein in den Wald aufgebrochen, doch nun hatte er Gesellschaft. Jetzt, wo er sich dessen bewusst war, fragte sich Jack, wie er es hatte übersehen können. Er hatte in letzter Zeit wenig an den Wolf gedacht, der ihm geholfen hatte, wenn er in Gefahr war. Doch in diesen Tagen mit Lesya gab es für ihn nur Freude und Zufriedenheit, die sein Herz höher schlagen ließen. Dennoch hatte er sich gefragt, was aus seinemSchutzgeist geworden war, dem Tier, das ihm neues Leben eingehaucht hatte, als er sterbend im Schnee lag. Der Wolf hatte ihm eine Nähe zur Wildnis ermöglicht, die er sonst nie bekommen hätte. Warum hatte er ihn nicht gesehen? Wenn er nachts die Augen schloss, meinte er manchmal das einsame Heulen eines Wolfs in weiter Ferne hören zu können. Doch dann lullte ihn das Feuer wieder ein, oder Lesya berührte seine Lippen mit einem zärtlichen Kuss, und der Wolf war vergessen.
Doch das hier war nicht der Wolf. Es war auch nicht der Wendigo. Und Jack kannte es. Er hatte diese Anwesenheit schon einmal gespürt, damals im Wald,
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