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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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schweiften seine Gedanken ab, und er dachte über die Reise nach, die ihn hierhergeführt hatte, und warum er von zu Hause fortgegangen war.
    Lesya brachte ihn zum Lächeln, und er brachte sie zum Lachen. Sie bestand darauf, dass er ihr am Abend bei Kerzenlicht vorlas. In ihrem Bücherregal stand unter anderem Eine Geschichte aus zwei Städten von Charles Dickens, und wenn Jack ihr von der leidenschaftlichen, hoffnungslosen Liebe zwischen Sydney Carton und Lucie Manette vorlas, versuchten beide so zu tun, als bemerkten sie nicht, dass seine Stimme dabei ein wenig zitterte.
    In stillen Momenten dachte er jedoch an daheim. Seine Mutter, Shepard und die gute Eliza warteten sicher auf Nachricht von seiner Ankunft in Dawson. Reiselust und Abenteuerdurst hatten ihn hierhergeführt. Sein Wunsch, die Wildnis zu bezwingen, trieb ihn an, doch er trug ebenso ihre Wünsche und Hoffnungen mit sich. Und auch wenn sich dieser Frühling in den Wäldern mit Lesya wie das Paradies anfühlte, war er zwischen Verlangen und Verantwortung hin- und hergerissen, während zuerst eine Woche und dann noch eine verging.
    Lesya spürte anscheinend etwas von seinen Gefühlen, denn eines Tages lud sie ihn zu einem Spaziergang im Wald ein.
    Sich an den Händen haltend wanderten sie durch den Wald, über ihnen leuchtete die Sonne. Der Wald jenseits ihrer Lichtung schien ganz alltäglich, und offenbar nahm Lesya jeden Tag einen anderen Weg, denn es waren keine ausgetretenen Pfade zu sehen.
    Während ihres Spaziergangs unterhielten sie sich. Sie verstand es, ihn dazu zu bringen, aus seinem Leben zu erzählen. Er brauchte allerdings nur wenig Ansporn, um von seiner Zeit als Austernpirat oder Hafenarbeiter zu erzählen. Doch er erzählte ihr auch von seinen Träumen und Plänen, und das so, wie er noch nie jemandem erzählt hatte. Er erzählte ihr sogar von seinen dreißig Tagen im Gefängnis, einer Höllenfahrt, von der er nicht einmal seiner Familie erzählt hatte. Lesya brachte ihm Worte und Ausdrücke in einem halben dutzend Sprachen bei, und sie unterhielten sich über Bücher, die sie gelesen hatten. Doch sonst gab sie nichts von sich preis. Jack hätte gern mehr über ihr Leben erfahren, auch wenn er das Rätselhafte an ihr liebte. Er bezweifelte nicht einen Moment, dass sie magische Fähigkeiten hatte. Doch er setzte sie nie unter Druck,ihm die wahre Natur ihres Hauses und Gartens zu erklären, und Lesya tat es auch nicht freiwillig.
    An diesem Tage jedoch behielten sie ihre Gedanken für sich. Sie gingen durch den Wald wie ein glücklich verliebtes Paar, das im Park spazieren geht.
    Und dennoch …
    Jack spürte, dass sie nicht allein waren. Seit sie Lesyas Lichtung verlassen hatten, war etwas bei ihnen gewesen. Der Wendigo konnte es nicht sein, den hätte er gehört und gerochen, wenn er ihnen auflauerte. Und auch wenn ihm in den Tagen bei Lesya im Wald die Abwesenheit seines Schutzgeistes deutlich bewusst gewesen war, der Wolf war es auch nicht.
    Es war etwas anderes, das sie beobachtete. Etwas grimmig Brütendes, vielleicht sogar Bedrohliches. Doch Lesya schien nichts zu bemerken. Und obwohl sich hier und da seltsame Schatten tief im Wald bewegten, konnte Jack keine wirkliche Gefahr erkennen.
    Als sie danach auf einer anderen Lichtung stehen blieben, wo die Bäume hoch emporragten und sich der Lichtung zuneigten und die Sonne so hell strahlte wie die goldene Kuppel einer Kathedrale, streichelte Lesya zärtlich sein Gesicht und küsste ihn, und all seine Sorgen waren vergessen.
    Spät nachmittags an einem Tag, an dem er schon längst aufgehört hatte, die Tage zu zählen, die er in Lesyas Hütte verbracht hatte – es waren wohl mehr als drei Wochen, aber weniger als ein Monat –, stand Jack in der offenen Tür, nippte an einer Tasse starken Tees und studierte die Bäume jenseits der Lichtung. Die Nacht zuvor hatte Lesya mit den Fingern Jacks Bizeps gestreichelt und ihm gesagt, er brauche mehr Fleisch,um wieder ganz zu Kräften zu kommen. Obwohl er sich wieder erholt fühlte – kräftiger sogar, als er es noch in San Francisco gewesen war – widersprach Jack nicht. Ein Blick in ihre Mandelaugen, in denen winzige grüne Flecken funkelten, die er nur bemerkte, wenn sie sich gerade geküsst hatten, reichte, um jeden Widerspruch auszuräumen, der sich in ihm regte.
    Wenn Lesya ihm ein besonderes Festmahl kochen wollte, hatte er ganz bestimmt nichts dagegen. Er würde es dankbar essen. Die Tage und Nächte bei ihr vergingen wie im Traum. Ihre

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