Die Wildnis
wieder atmen konnte.
Er wischte sich den Hosenboden ab, umklammerte mit der rechten Hand einen tiefen Kratzer im linken Bizeps, stand auf und sah, dass die Bäume sich wieder bewegt hatten. Sie standen immer noch dicht an dicht, doch nun öffnete sich ein schmaler Weg vor ihm, frei von Wurzeln, Felsbrocken oder Bäumen, als sei der Weg extra für ihn geräumt worden.
Er wusste sehr wenig über diesen Wald. Doch es war ihm klar, dass Lesyas Zauber nicht als Einziger hier am Werk war. Das Gefühl der Bedrohung umgab ihn wie unsichtbarer Rauch, er fühlte sich schrecklich bedrängt. Er hatte keine Ahnung mehr, in welcher Richtung Osten lag, und es war ihm auch egal. Der Wald hatte ihn fest im Griff. Es blieb nur dieser eine Weg.
Wenn er jemals Lesya oder die Zivilisation wiedersehen wollte, musste er ihm folgen.
KAPITEL 11
DIE SPRACHE DES LANDES
Jack brachte seine ganze Energie auf, um loszurennen. Er musste dabei an seine Flucht durch den Wald vor dem Wendigo denken, aber diese Bedrohung hier war finsterer, unbekannter. Es versteckte sich in den Schatten unter den Bäumen, unter den Blättern des letzten Herbstes am Waldboden, hinter jedem Baumstamm. Selbst als er spürte, dass die Bedrohung weit hinter ihm lag, lief er weiter.
Er sah sich kein einziges Mal um. Er versuchte, sich einzureden, dass es besser war, nach vorne zu sehen, um nicht in eine Senke oder einen tückischen, spitzen, abgebrochenen Ast zu laufen. Doch in Wahrheit hatte er Angst davor, was er hinter sich erblicken könnte.
Er hoffte, er lief in Richtung Hütte. Sein sonst so untrüglicher Orientierungssinn war verwirrt und verschwommen. Die Bäume hatten ihn in eine bestimmte Richtung gelenkt, doch sobald er außerhalb ihrer Reichweite war, änderte er die Richtung, durchquerte eine kleine Schlucht, die von einem längst vertrockneten Fluss stammte, bog dann wieder nach links ab, an fünf umgestürzten Bäumen vorbei, die wie tote Liebende ineinander verschlungen waren. Er brachte sich selbst ganzdurcheinander, hoffte jedoch, dass es seinen Verfolger, was immer das auch sein mochte, noch mehr verwirrte.
Dann hörte Jack irgendwo rechts von sich Gesang. Es war die seltsamste, lieblichste Stimme, die er je gehört hatte, obwohl sie auch etwas unheimlich war. Er musste an den Wind denken, der durch ausgehöhlte Knochen pfiff. Sein Blut gefror, doch die Stimme war nicht bedrohlich.
Er merkte, wie er unwillkürlich darauf zuging, ohne etwas dagegen tun zu können. Die andere Richtung!, dachte er. Ich sollte in die andere Richtung gehen! Aber die Stimme lotste ihn weiter, die Worte des Gesangs trösteten ihn. Er verstand sie zwar nicht, doch es war eine Sprache, die Lesya benutzte, wenn sie im Schlaf murmelte. Er bahnte sich einen Weg zwischen ein paar kleinen Bäumen durch und schloss die Augen, als ein dünner Ast über seine Wange kratzte. Doch die Anordnung dieser Bäume war rein natürlich, es ging keine Bedrohung von ihnen aus.
Er erreichte die Lichtung dahinter und sah Lesya. Er hielt am schattigen Waldrand an und versuchte zu begreifen, was sie tat. Zuerst konnte sein Verstand es nicht erfassen, er hörte nur immer wieder ein Wort in sich: Zauberei, Zauberei, Zauberei …
Lesya war der Mittelpunkt von allem. Sie stand im Zentrum der Lichtung, die Arme zur Seite ausgestreckt, den Kopf leicht geneigt, als lauschte sie. Sie war schöner denn je. Es war ihre Stimme, die die Luft erfüllte. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen – sie stand von ihm abgewandt –, aber er konnte an ihrem Gesang hören, dass sie lächelte.
Jack hatte schon von Schlangenbeschwörern gehört, aber noch nie einen gesehen. Einmal hatte er gesehen, wie ein Manneinen Stier bezirzte, seinem Kommando zu folgen. Jack selbst hatte die nicht gerade einfache Kunst gelernt, die Aufmerksamkeit eines Hundes zu lenken. Doch nicht mal in seinen wildesten Träumen hätte er sich so etwas wie das hier vorstellen können.
Lesya hatte den Wald in ihrem Bann. Um sie herum schienen die Blumen jeder ihrer Bewegungen zu folgen, und die Äste schwankten im Takt ihres Gesangs. Zu ihren Füßen wehte das Gras, und ein paar wagemutige Halme schlängelten sich den Boden entlang, ihre Beine hinauf, um ihre Hüften und noch höher. Sie sah zu den Sprösslingen hinab, die sich nur zögerlich zurückzogen.
Ihr Lied veränderte sich fast unmerklich, Schatten flitzten über die Lichtung. Jack war sich nicht ganz sicher, was es war – Tiere vielleicht, aber sie waren zu schnell, um sie zu
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