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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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erkennen. Wenn er einer der Gestalten hinterhersah, verschwand sie, ehe er etwas erkennen konnte, und schon erblickte er die nächste Gestalt aus dem Augenwinkel. Er zwinkerte mehrmals fest und sah dann wieder hin, aber die Gestalten waren immer noch nicht mehr als die Andeutung eines Wesens.
    Er konnte sie hören und riechen. Vielleicht staunten sie genauso über Lesya wie er.
    Jack runzelte die Stirn und dachte daran, wie der Wald ihn eingeschlossen hatte, ihn zu zerquetschen drohte, in eine bestimmte Richtung drängte … aber das hier war völlig anders. Hier war keine Bedrohung, nur Ehrfurcht vor dem, was Lesya verkörperte. Das vorhin war etwas ganz anderes, dachte sich Jack und sah über seine Schulter in den regungslosen Wald hinter sich.
    Als er sich wieder der Lichtung zuwandte, erblickte er im Schatten der Bäume hinter Lesya etwas Graues.
    »Oh!«, rief Jack, weil er dachte, es sei ein Wolf.
    Lesya drehte sich um. Sie hörte auf zu singen. Der Wald war auf einmal wieder nur ein Wald, nichts bewegte sich mehr, die Schatten blieben stehen, Wachstum und Verfall folgten wieder ihren eigenen unmerklichen Abläufen. Die graue Gestalt verschwand.
    Einen kurzen Augenblick lang wurde Lesyas Gesichtsausdruck steinhart und leer.
    »Da ist etwas im Wald«, stellte Jack fest, denn er hatte keine Ahnung, wie er es überhaupt anfangen sollte, sie zu fragen, was sie eben gemacht hatte.
    Lesya kam zu Jack, berührte sein Gesicht und sah über seine Schulter in den Wald hinter ihm. Sie seufzte.
    »Komm mit. Es ist Zeit, dir einige Dinge zu erzählen.«
    »Über dich? Wieso der Wald mich umbringen will?«
    Lächelte Lesya? Jack war sich nicht sicher, aber falls ja, gefiel es ihm nicht besonders. Er hatte noch nie Hohn und Spott in ihren Augen gesehen, bis jetzt.
    »Wenn er dich umbringen wollte, hätte er es getan«, erklärte sie. »Ich muss dir von meinem Vater erzählen.« Sie ging über die Lichtung, ohne sich umzusehen. Jack blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
    Und Lesya erzählte, während sie weitergingen. Erstaunt, aber auch erleichtert hörte Jack ihr zu. So unglaublich wie das, was sie ihm erzählte auch war, erklärte es zumindest ein bisschen, was in den letzten Wochen mit ihm passiert war. Zauberei , dachte er noch mal, aber hier war etwas noch Älteres am Werk.
    »Mein Vater ist Leschiji, ein uralter Waldgott, der seit dreihundert Jahren in diesen Wäldern wohnt. Er kam in denHerzen und Köpfen russischer Entdecker hierher und führte hier ein angenehmes Leben, bis die Russen langsam an diesem Land zugrunde gingen: an Hunger, Kälte, Gewalt, Eingeborenen. Nach drei Jahren waren sie alle tot. Mein Vater aber blieb, denn für ihn war es das Paradies. Er machte sich diese Wälder zu eigen, hegte und pflegte sie und erfreute sich an den Orten, wo selten Menschen hinkamen.«
    Lesya und Jack machten an einem Bach halt. Leichtfüßig sprang sie ans andere Ufer hinüber. Als er ihr folgen wollte, hielt er inne.
    »Es ist zu weit«, meinte er und versuchte, sich vorzustellen, wie sie das gemacht hatte. Er runzelte die Stirn, denn seine Erinnerung daran verschwamm.
    Lesya lächelte ihn an und deutete nach unten. »Dort im Bach liegen drei Steine, auf die du treten kannst«, sagte sie. Jack wagte sich hinüber. Noch ehe er sie erreicht hatte, sprach Lesya schon weiter.
    »So weit von zu Hause weg zu sein, schwächte meinen Vater jedoch. Die Stämme hier kannten seinen Namen nicht. Sie glaubten an andere Geister und schwächten ihn durch ihren Unglauben jedes Jahr mehr. Als der Sommer kam, verdörrte er fast. Dann kam der dunkle Winter, und er wurde in dem Geisterglauben der Männer und Frauen wieder stärker. Es widerstrebte ihm zwar, von ihren Ängsten zu zehren, aber nur so konnte er wieder zu Kräften kommen. Er revanchierte sich dadurch, indem er ihre Rinderherden beschützte und sie warnte, wenn es einen besonders schlimmen Winter geben würde.
    »Dann war er es also, der mich umbringen wollte?«, fragte Jack. Er war zwar Zeuge von Zauberkräften und beinaheunglaublichen Dingen geworden, aber er war dochnoch weit davon entfernt, es zu glauben. Die Frage war dennoch nicht unsinnig und Lesyas Antwort darauf sehr ernüchternd.
    »Mein Vater ist wütend nach so langer Zeit hier«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Und ich spüre, dass er auf dich und mich eifersüchtig ist. Wir haben Glück, dass er durch die lange Zeit des Unglaubens geschwächt ist.«
    »Wenn ich an ihn glaube, wird ihn das stärker

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