Die Wildnis
machen?«
Lesya blieb stehen und drehte sich mit finsterem Gesicht zu ihm. Aber ihre Augen funkelten immer noch. Ich könnte sie wirklich lieben , dachte er und hielt den Atem an. Er erwartete schon, die Bäume würden sich um ihn schließen und seine Liebe erdrücken.
»Bitte, ich kümmere mich schon um meinen Vater«, entgegnete sie. Sie kam ganz nah auf ihn zu, berührte sein Gesicht und betrachtete das Blut auf ihrer Fingerspitze. »Ich beschütze dich.«
»Und was ist mit dir?«, wollte Jack wissen. »Wenn er dein Vater ist, was…?« Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Was bist du dann?, hatte er eigentlich sagen wollen, aber er tat es nicht. Sie war einfach zu schön.
»Meine Mutter war ein Mensch«, erklärte sie. »Vor langer Zeit, als Vater noch stark genug war, in menschlicher Gestalt zu erscheinen, traf er eine Indianerfrau, die sich in den Bergen verlaufen hatte. Er nahm sie bei sich auf und kümmerte sich um sie. Er ahnte schon, dass der Unglauben ihn mit der Zeit schwächen würde. Vielleicht dachte er, ein Menschenweib zur Frau zu nehmen, würde es aufhalten.« Sie zuckte die Achseln. »Sie starb bei meiner Geburt.«
»Das tut mir leid«, sagte Jack, und Lesya lächelte traurig.
Sie wandte sich ab und ging weiter. Kurze Zeit später erreichten sie die Lichtung bei ihrer Blockhütte.
Einen Moment lang fühlte Jack sich schwindlig. Er lehnte sich an einen Baum und sah an Lesya vorbei auf die Hütte. Das wird mir alles zuviel , dachte er. Lebende Häuser, Waldgötter, und Lesya … Lesya, meine Liebste, was hat sie dort auf der Lichtung gemacht? Er hatte Angst vor ihr, und es wurde ihm klar, dass diese Angst schon immer Teil seiner Verwirrung gewesen war. Lesya war etwas, das er nie ganz begreifen würde, und ihre Schönheit – die Vorstellung, dass sie ein Liebespaar sein könnten – vernebelte seinen Verstand.
»Von allen Menschen kannst du das am besten verstehen«, sagte Lesya, als antwortete sie auf seine Gedanken. »Es gibt so viele Wunder auf der Welt!«
Sie fiel auf die Knie, beugte sich vor, legte die Hände auf die Erde und lächelte zu Jack hoch.
Er blinzelte.
Lesya war ein Polarfuchs, lief über die Lichtung und verschwand hinter dem Haus.
»Lesya?« Er starrte ihr ungläubig hinterher. Er konnte nicht fassen, was er da gerade gesehen hatte. Er hatte sich zwar damit abgefunden, dass den Dingen ein Hauch von Magie anhaftete, aber nun wurde es immer unglaublicher.
Hinter der Hütte trat ein Karibu hervor und trottete zu Jack hinüber, ohne in die zahlreichen Blumenbeete zu treten, die das Haus umgaben. Es blieb schnaubend vor ihm stehen, roch nach Zimt und Wildnis. Er blinzelte …
… und Lesya stand wieder vor ihm. Sie atmete schwer, als hätte sie gerade einen Sprint hingelegt. Hier und da haftete an ihrem schlichten Kleid noch Fell. Ihr breites Lächeln warnur für ihn bestimmt, galt ganz allein nur ihm. Er schloss die Augen, doch das war nicht genug gegen solche furchterregenden Wunder.
»Du musst keine Angst haben, Jack«, erklärte sie.
Jack öffnete die Augen wieder und immer noch stand Lesya vor ihm, die unfassbar schöne Frau, in die er sich so leicht verlieben könnte. »Wirklich?«, fragte er, immer noch zweifelnd.
»Wirklich.« Sie kam näher, ihr exotischer Duft auch, und küsste ihn sanft auf den Mund.
Ich glaube dir, wollte er sagen, brachte es aber nicht heraus. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.
Sie führte ihn in die Hütte, und als er auf dem Bett lag, kümmerte sie sich um seine vielen Schürf- und Schnittwunden.
»Ich habe dein Buch verloren«, fiel ihm ein. Er hatte den Dumas-Roman auf seiner Flucht durch den Wald fallen gelassen.
»Egal«, meinte sie. »Ich hab es schon so oft gelesen.«
»Woher hast du …«, setzte Jack an. Doch sie legte ihm wie beim ersten Mal die Finger auf die Lippen.
»Still, Jack. Leg dich hin, sei ganz ruhig, ich kümmere mich um deine Wunden. Mein Vater kennt viele Tricks und Tücken. Er hat dich dieses Mal laufen lassen, doch wo sein Geist wirkt, beherrscht er alles völlig. Vom größten Baum bis zur kleinsten Kreatur. Ich muss sichergehen, dass er dich nicht mit irgendwas infiziert hat.«
»Infiziert?«
»Pilzsporen, Fliegenlarven, Giftpflanzenextrakte, Eiter von toten Tieren … der Wald steckt voller Gefahren.« Sie lächelte milde, als dächte sie an etwas sehr Persönliches.
»Ich kann mich selbst waschen …«, begann er, unterbrach sich aber. Sie benutzte ein weiches, feuchtes Tuch, das sie
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