Die Wildnis
gar nichts und fragte sich, ob sein Verrat ihm die Fähigkeiten, die Lesya ihm beigebracht hatte, rauben würde. Doch dann spürte er selbst auf der Flucht eine Veränderung vor sich. Er konzentrierte sich auf den Wald um sich herum, doch er spürte auch den Wind, den Geruch und die Weite von offenem Grasland.
Er hörte das Knurren eines Wolfs und schickte ihm seine eigene Stimme entgegen.
Während er lief, fühlte er sich, als ob er aus einer Trance erwachte. Der Wald, seine Anstrengung und die wachsendeEntfernung zur Blockhütte befreiten ihn davon – von dem Ort, der seine Zuflucht und sein Gefängnis gewesen war.
In seinem Kopf lächelte seine Schwester Eliza ihn an, Shepard ergriff seine Hand und erinnerte ihn an die Versprechen, die er noch einzulösen hatte, und sogar seine Mutter war da. Obwohl sie nicht wirklich lächelte, verfluchte sie ihn nicht mehr gar so sehr. Für euch, wenigstens für euch , dachte er.
Er stolperte über eine Ranke und stürzte hart zu Boden. Die Luft blieb ihm weg, als er gegen einen Baumstamm prallte. Voller Furcht sah er zu dem hoch gewachsenen Ungetüm auf, als würde es gleich die Wurzeln erheben und ihn darunter begraben. Doch während er den Baum als vermeintlichen Gegner im Auge behielt, wickelte sich die Ranke um seine Beine … und schnürte sich fest.
Jack brüllte vor Schmerz. Er zerrte an der Ranke, zog und kratzte, aber je mehr er kämpfte, desto enger schlang sie sich.
Erst jetzt bemerkte er, dass die Geräusche in der Ferne verklungen waren. Kein Schreien oder Brüllen mehr, kein Widerhall von kämpfenden übernatürlichen Wesen. Die Tiere waren alle geflohen und hatten ihn allein zurückgelassen. Der Wald wurde stiller, als er ihn je erlebt hatte.
Stiller als ein Grab , dachte er, und fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, Teil eines Baumes zu sein, sein Blut durch Pflanzensaft ersetzt, wie schmerzlich das unendliche Verstreichen der Zeit sich anfühlen würde …
Eine blassblaue Gestalt bewegte sich weit weg zwischen den Bäumen.
Noch mehr Ranken schlängelten sich über den Waldboden und packten ihn an Armen und Beinen. Ein Luftstoß wehte Blätter und Flugsamen auf, die eigentlich erst im Herbst in dieLüfte gehen sollten. Es roch nach Zimt und Erde, nach dem frischen Duft von Lesyas Atem und dem vertrauten Geruch von vermoderndem Laub. Er versuchte wieder mit seinen Sinnen nach außen zu tasten, doch er war klein, ein Nichts , kaum mehr als ein Echo in dieser Landschaft, die voll von unglaublichen Wundern war.
»Hilfe!«, rief er, doch der Wald verschluckte seine Stimme.
Und dann stand Lesya vor ihm. Sie tauchte zwischen den Bäumen auf – verwandelte sich vom Waldgeist in eine neue Gestalt. Sie war immer noch wunderschön, aber auf furchtbare Weise. Ihre Haut war immer noch samtweich, doch sie besaß nun eine Strahlkraft, die keinem Naturgesetz gehorchte. Zorn leuchtete ihr aus den Augen, ihre Mundwinkel waren in einer bitterbösen Parodie ihres üblichen Lächelns nach unten gerichtet. Sie trug ihre Schönheit nicht mehr wie ein Geschenk, sondern als natürlichen Auswuchs ihres Wesens. Es war jedoch ihre Wut, die ihre Schönheit mit dem Makel des Hässlichen entstellte.
»Ich dachte, du wärst derjenige«, sagte sie zu ihm.
»Lesya …«
»Ich dachte, es wäre Liebe !«
»Ich gehöre nicht hierher. Ich kann der Wildnis zwar sehr nah sein, aber …«
»Ich habe dir Dinge gezeigt«, meinte Lesya, ihre Stimme wurde wieder sanfter. Sie kam näher, mit diesem Gang, der ihn immer betört hatte. Mit wallenden Haaren und den Kopf leicht zur Seite geneigt. »Ich habe dir einen Teil von mir geschenkt, eine Gabe der Zauberkraft, die ich nie wieder bekommen kann. Ich habe dir Dinge gezeigt, die ich sonst keinem anderen je gezeigt habe.«
»Ich weiß, welche anderen du meinst«, sagte Jack und bereute es, sobald er es gesagt hatte.
»LESCHIJI!«, knurrte Lesya. Die Bäume um sie herum erzitterten, der Boden bebte, die Luft selbst schien vor Furcht zurückzuweichen.
Jack stockte der Atem, er schnappte nach Luft, während sie auf ihn zukam. Ihre Hände hielt sie wie Krallen vor sich, die Haut unter ihren Fingernägeln war nicht mehr rosa, sondern grün.
Er schloss die Augen, sah wieder Eliza, Shepard und seine Mutter, und wusste, wenn er starb, würde sie versuchen, in einer ihrer schrecklichen Séancen mit ihm in Verbindung zu treten. Von Panik und Schrecken verwirrt, wie er war – sodass er es kaum noch aushalten konnte –, hatte er die
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