Die Wildnis
natürlichen Ordnung dieser Wildnis. Sie wollte doch nur überleben, genau wie er. Und sie musste so einsam gewesen sein.
In der Schlucht zählte er fünfzehn Bäume, die hier nicht natürlich gewachsen waren. Jeder dieser Bäume hielt einen menschlichen Körper gefangen. Er wurde von dem Baum umschlungen, als wäre der Baum von Anfang an um ihn gewachsen. Bei manchen ragten Gesichter unter der Rinde hervor. Bei anderen war der Körper kaum mehr zu erkennen: Ein Arm hier, ein Fuß da. Es waren Lesyas frühere Liebhaber, Männer, die hierhergekommen und von der Schönen mit ihrer unglaublichen Hütte bezirzt worden waren. Manche waren von der Kleidung her wohl Russen, andere Franzosen. Einige wohl Indianer, und auch Schwarze. Er dachte, sie wären alle tot und irgendwie durch Lesyas Zauber vor der Verwesung konserviert worden. Bis einer blinzelte.
Jack schrie auf. Bisher hatte der Schrecken ihn noch kalt gelassen, doch diese aufblitzenden Augen durchbrachen seine Abwehr und entfachten das Entsetzen in ihm. Er taumelte vor dem Gefangenen zurück – nur sein Gesicht und sein linker Arm waren außerhalb des Baumes sichtbar –, doch der nächste Baum schnitt ihm den Fluchtweg ab.
Er drehte sich um und sah in die grünen Augen eines Verwandelten. Der Mann machte langsam den Mund auf, aber es kam kein Laut. Borkenkäfer krabbelten ihm um die wenigen verbliebenen Zähne. Er hatte furchtbare Schwielen und Wunden in seiner Mundhöhle, aber trotz der offenen Wunden war sein Blut nicht rot. Es war dicker, zähflüssiger Sirup.
Es gab kein Anzeichen von Bewusstsein oder Erkenntnis in den Augen des Mannes.
So wie der Wendigo, als er mir in meiner eigenen Gestalt begegnet ist … unnatürlich und abartig!
Jack rannte weiter, diesmal in blinder Panik, krabbelte die Schlucht hinauf, seine Finger krallten sich in die weiche Erde, und seine Füße strampelten wie wild. Er hatte jede Orientierung verloren – er hätte genauso gut direkt auf die rasende Lesya zuklettern können anstatt von ihr weg.
Der Wald hat noch jede Menge Bäume , flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, die er nicht einordnen konnte. Vielleicht war es seine Angst, die ein Eigenleben anzunehmen begann. Aber wo auch immer die Stimme herkam, sie machte Jack eines klar: Wenn Lesya ihn erwischte, wäre das auch sein Schicksal.
Schließlich würde sie ihm nie wieder vertrauen können. Sie besaß zwar nach außen ein zivilisiertes Gewand, wie der Wendigo es nie hatte, doch das Monster war wenigstens ehrlich in seiner rasenden Gier. Lesya log und betrog, und dahinter verschlang sie die Menschen genauso.
Jack erreichte den oberen Rand der Schlucht und blickte nach unten. Die Blätter dieser ungeheuerlichen Bäume sahen voll und natürlich aus, von hier oben konnte er die abscheulichen Gestalten in ihren Stämmen kaum erkennen. Die Panik hatte ihn im Griff, dennoch blickte er sich schnell um und holte tief Luft. Er hörte das Chaos um sich wüten. Er hoffte, dass er die richtige Seite der Schlucht emporgeklettert war, drehte sich um und rannte weiter.
Der Wald hier war immer noch dicht, doch hier war er nie mit Lesya gewandert. Natürlich hatte sie ihn von dieser schrecklichen Schlucht ferngehalten, also hatte er keine Ahnung, wo er jetzt hinlief … während um ihn herum der Waldzum Leben erwachte. Tiere, groß und klein, liefen mit Jack mit, und einen Augenblick lang war er verwirrt. Scheuche ich sie etwa auf? Doch dann begriff er, dass es nicht an ihm lag, dass ihre Fluchtrichtung auch für ihn eine gute Wahl war.
Der ganze Wald hatte Angst.
Hasen und Füchse rannten, Vögel und Insekten flogen, etwas weiter hörte er schweres Stapfen, vermutlich eines Bären.
Entsetzliche Laute erklangen hinter ihm. Ein fürchterliches Stöhnen wie von einem Baum, der samt allen Wurzeln ausgerissen wird, das donnernde Krachen eines Baumstammes, der zerbrochen wird, ein gellender Schrei, der mit einem Schluchzen endete und nur von Lesya stammen konnte.
»Es tut mir leid«, flüsterte Jack und fragte sich, ob sie ihn wohl hören konnte. Sie konnte genauso gut dieser Vogel da sein, dieser Käfer oder der fliehende Luchs, den er gerade links von sich gesehen hatte. Als Luchs könnte sie ihn leicht einholen. Als Bär könnte sie ihn zerfetzen. In seiner Panik erkannte Jack, dass er nicht unbedingt allein sein musste.
Während er lief, über umgestürzte Bäume sprang und die Tiere bestaunte, die mit ihm flohen, versuchte er, mit seinem Geist vorauszutasten. Zuerst fühlte er
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