Die Wildnis
hielt nur einen Moment lang an, und wenn der Vogel gewollt hätte, hätte er ihn von dem steilen Abhang stürzen können.
Unten durchquerte er dann den reißenden Strom und fühlte sich plötzlich dabei beobachtet. Es war ein Blick, den er noch nie zuvor gespürt hatte.
Langsam drehte er sich um, um zu sehen, wer oder was ihn diesmal ansah.
Es war ein Schwarzbär. Zehn Meter weiter den Fluss entlang starrte er ihn, mit den Vorderpfoten im Wasser, ruhig und völlig bewegungslos an. Die einzige Regung, die Jack bemerkte, waren die Nüstern, die auf und zu gingen, während das Tier ihn begutachtete.
Lesya! dachte er, doch nur einen Moment lang. Sie war es nicht. Er war nun weit außerhalb ihrer Reichweite. Er versuchte, sich darauf gefasst zu machen, sich mental darauf vorzubereiten, wie ein Bär zu brüllen, wie ein Bär zu denken, und scheute vor dieser Aufgabe. Doch der Bär wandte sich ab und trottete die Schlucht entlang. Jack sah ihm hinterher, bis er um die Ecke eines Vorsprungs verschwunden war.
Er setzte sich wieder in Bewegung, um die Wand gegenüber zu erklimmen – seine Hände fanden Griffe, fester Stein trug sein Gewicht –, als er sich plötzlich schrecklich einsam fühlte. Es war nicht die menschliche Gesellschaft, die er vermisste, nicht einmal die weibliche Gesellschaft oder Lesya. Es war das Wesen, das Jack so lange auf seiner Reise begleitet hatte … sein Schatten, sein Beschützer … Jack London vermisste den Wolf.
Sein ganzes Leben hatte er den Aberglauben seiner Mutter abgelehnt. Auch nur eine Sekunde zu glauben, dass seine Mutter tatsächlich mit den Toten sprechen könnte, hätte ihn vor Furcht gelähmt. Hätte er als kleiner Junge ihr Treiben nicht für regelrechten Betrug gehalten, hätte er keine ruhige Minute mehr gehabt.
Doch nun wusste er, dass es wirklich Zauberkräfte gab, dass Geister im Äther wohnten und nicht alle davon menschlicher Natur waren. Er wusste, dass Verfluchungen Ungeheuer erschaffen und einen Mann zu unsäglichem Leid verdammen konnten, so wie es das Schicksal des Wendigos war. Nun glaubte er sogar, dass seine Mutter mit den Toten sprechen konnte.
Jacks eigener Schutzgeist war sein Begleiter und Beschützer gewesen, seit er den Chilkoot-Trail betreten hatte. Nun sorgte er sich um den Wolf. Er wurde verwundet, als er ihm seine Flucht vor Lesya ermöglichte. Jack wusste nicht genau, wie soetwas möglich war, doch es war passiert, das hatte er gespürt . Er machte sich Sorgen, was das genau bedeutete und ob er den Wolf jemals wiedersehen würde.
Was war überhaupt mit diesem Wolf? Was war er? Kam er aus Jack oder von außen? Wie auch immer, vermutlich erklärte das seine eigene Wanderlust. Vermutlich würden die wilden Gebiete der Welt immer eine Anziehung auf ihn ausüben.
Er war dem Wendigo entkommen und hatte gelernt, die Sprache der Tiere zu sprechen. Er hatte eine Wahnsinnige geliebt, die ein halbes Märchenwesen war, und hatte einen Teil ihres Zaubers in sich aufgesogen – eine Art Geheimsprache der Wildnis. Seine Reise hatte ihn verändert, sodass ein gewisser Teil von ihm immer wild sein würde. Aber wenn er so grundlegend verändert worden war, bedeutete sein Überleben dann, dass er tatsächlich die Wildnis bezwungen hatte? Oder hatte sie ihn bezwungen?
Jack wusste gar nicht, ob diese Frage überhaupt noch wichtig war.
Sein Schuldgefühl trieb ihn an. Lesya hatte ihn bezaubert, und Jack hatte viele Wochen verstreichen lassen, während seine Familie kein Sterbenswörtchen von ihm gehört hatte. Das Haus seiner Mutter stand auf dem Spiel, seine Familie sorgte sich sicher um ihn, doch er war Händchen haltend durch den Wald geschlendert und hatte sich an den Früchten aus dem Garten der Waldhexe gelabt.
Nun marschierte er nach Osten, orientierte sich an der Sonne und war fest entschlossen, sich von nichts mehr aufhalten zu lassen. In der Nacht, als der Wendigo angegriffen hatte, war er aus dem Lager am Fluss nach Westen geflohen, doch er war gestürzt und bewusstlos unten in der Schlucht liegen geblieben,nur um irgendwann später irgendwo anders aufzuwachen, ohne zu wissen, wie weit Lesya ihn getragen hatte.
Weit kann es nicht gewesen sein , dachte er, während er über das raue Gelände marschierte. Der Wendigo ist mir dorthin gefolgt .
In Wahrheit hatte er jedoch keine Ahnung, wozu der Wendigo oder Lesya fähig waren. Die Waldhexe hätte ihn hundert Meilen weit verschleppen und das Monster ihm trotzdem folgen können. Also musste Jack sich jetzt
Weitere Kostenlose Bücher