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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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wollte nicht, dass sie sich bedrängt fühlte. Oder Verdacht schöpfte.
    »Vielleicht sollten wir gehen«, sagte er. »Bevor es bei Moskowitz zu voll wird.«
    »Ja, das sollten wir. Dort trinken wir ein Glas Wein und vergessen mal eine Stunde lang alle Sorgen und Kämpfe. Entschuldige mich einen Moment, ich mache mich bloß schnell noch frisch«, fügte Harriet hinzu und verschwand.
    Sobald er hörte, wie die Toilettentür zufiel, eilte Max ins Büro von Harriets Sekretärin und hoffte, sie sei bereits zum Lunch gegangen. Sie war tatsächlich schon weg und hatte alle Unterlagen auf dem Schreibtisch liegen gelassen. Jennie Finnegans Akte befand sich zuoberst. Max schlug sie auf und begann zu lesen.
    Jennies Niederkunft sollte in etwas weniger als acht Monaten nach ihrer Hochzeit stattfinden. In acht statt der üblichen neun. Außerdem erfuhr er, dass sie als Kind einen schrecklichen Unfall hatte, bei dem mehrere Organe einschließlich der Gebärmutter beschädigt wurden. Es gab Skizzen von Jennies Narben und eine Zeichnung, die wohl einen missgebildeten Uterus darstellte. Eine Notiz besagte, dass sie sich zurzeit in ihrem Cottage in Binsey erholte.
    Und schließlich las er, dass seine Cousine, Dr. Harriet Hatcher, nicht erwartete, dass Jennie das Kind austragen könne, dass sie ihre Patientin darüber aufgeklärt und ihr geraten habe, sich auf die Möglichkeit einer Fehlgeburt einzustellen.
    Nachdem Max die Akte wieder zurückgelegt hatte und in Harriets Büro zurückgeeilt war, schöpfte er neue Hoffnung.
    Er hatte so viele nützliche Details erfahren in den letzten Tagen – und bei allen stand Jennie Finnegan, Reverend Wilcotts Tochter, im Mittelpunkt. Sie war vor der Hochzeit schwanger geworden, würde wahrscheinlich das Kind nicht austragen können, und ihr Mann traf sich zu heimlichen Rendezvous mit Willa Alden im Coburg. Wie gesagt, die Privatangelegenheiten anderer Leute erwiesen sich wieder einmal als äußerst nützlich.
    »Können wir?«, fragte Harriet, als sie wieder in ihr Büro kam.
    »Ja, wir können«, antwortete er und stand auf.
    Er half Harriet in den Mantel und machte ihr Komplimente über ihren hübschen, mit Seidenblumen verzierten Strohhut. Als sie vor die Tür traten, hatte es zu nieseln begonnen. Max spannte schnell seinen Regenschirm auf und nahm Harriets Arm.
    »Natürlich«, seufzte sie. »Tristes Wetter, das zu unserer tristen Stimmung passt. Aber Kopf hoch, Max. Ich finde, wir sollten trotz der grauen Wolken versuchen, unseren Lunch zu genießen.«
    »Ach, meine liebe Harriet«, antwortete Max lächelnd. »Ich genieße ihn bereits.«

   39   
    J osie warf noch eine Schaufel Kohlen ins Feuer. Am Abend war es kühl geworden. Sie stocherte die Glut auf, bis die Flammen hell loderten, lehnte die Schaufel an die Wand und drehte sich zu ihrer Freundin um.
    Jennie saß auf einem Stuhl in der Nähe. Ihre Augen waren trüb, ihr Gesicht grau. Sie weinte nicht mehr – immerhin etwas –, aber jetzt saß sie bewegungslos da und starrte stumm ins Feuer.
    Das kleine Leben in ihr war heute Morgen gestorben. Und mit ihm Jennie, wie es Josie schien. Sie wirkte wie eine leere Hülle. Ohne jeglichen Lebensfunken.
    Es tat Josie weh, sie so zu sehen. Jennie war wie eine Mutter zu ihr gewesen. Sie hatte ihr Lesen und Schreiben beigebracht. Und eine ordentliche Ausdrucksweise. Zumindest hatte sie das versucht. Sie hatte ihr Interesse für Musik und Singen unterstützt. Und wenn ihr Vater seinen Lohn vertrunken hatte und nichts mehr zum Lebensunterhalt übrig blieb, hatte Jennie ihr zu essen gegeben. Und wenn er aus dem Pub heimkam und ihre Mutter verprügelte, lief sie zu Jennie, die sie in ihrem Bett schlafen ließ.
    Jennie hatte sie es zu verdanken, dass sie zur Bühne gekommen war. Sie hatte sie vor der Schinderei in den Fabriken von Wapping oder Whitechapel bewahrt und vor ein paar Wochen erneut gerettet, nachdem Madden sie geschwängert hatte. Es gab nichts, was Josie nicht für Jennie getan hätte – wenn Jennie sie nur ließe.
    Josie holte tief Luft, zog einen Stuhl heran und setzte sich so dicht zu ihrer Freundin, dass ihre Knie sich berührten. Dann nahm sie ihre Hände und sagte: »Wir können das schaffen. Das weiß ich. Wir beide gemeinsam.«
    Jennie schüttelte den Kopf. »Das klappt doch nie.«
    »Doch. Wenn wir es wollen, schon. Wenn du es willst.«
    Jennie erwiderte nichts, aber ihr Blick wanderte vom Feuer zu Josies Gesicht und wieder zum Kamin zurück. Was Josie für ein gutes

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