Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
Betts. Ein künstliches Bein, komplett mit beweglichem Kniegelenk, lag auf dem Boden neben ihm, wo er es kurz zuvor hingeworfen hatte.
    Sid Baxter, der in der Tür von Bens Zimmer stand, in der einen Hand seinen Stock, in der anderen einen Stapel Kleider, blickte zuerst auf das künstliche Bein und dann auf Ben. Ein harter Brocken, der Junge, dachte er. Seit seiner Einlieferung hatte er kaum etwas gegessen, kaum gesprochen und sich geweigert, sein neues Bein zu tragen. Dr. Barnes, der Psychiater, hatte aufgegeben. Da er rein gar nichts bei ihm ausrichten konnte, hatte er Sid gebeten, einen Versuch zu machen.
    »Ben Cotton?«, fragte Sid.
    »Ja«, antwortete Ben, ohne aufzublicken.
    »Ich bringe Kleider für dich. Ein Paar Hosen. Hemd und Krawatte. Und einen Pullover«, sagte Sid. Er bekam keine Antwort.
    »Ich dachte, du könntest sie brauchen. Da ist ein Mädchen unten im Besuchsraum, das dich sehen möchte. Sie sagt, dass sie den ganzen Weg aus Leeds hergekommen ist. Sie wohnt in einem kleinen Gasthaus im Dorf, kann aber nicht mehr länger bleiben. Weil das ziemlich teuer für sie ist, verstehst du? Seit einer Woche ist sie jeden Tag hergekommen, in der Hoffnung, dich zu sehen. Ich schätze, du bist nicht runtergegangen, weil du außer diesem albernen Nachthemd nichts anzuziehen hast.«
    »Ich hab Dr. Barnes gesagt, er soll sie heimschicken«, antwortete Ben.
    »Wer ist sie denn?«
    »Meine Verlobte.«
    »Ziemlich unhöflich von dir, in deinem Zimmer zu bleiben, wenn sie den ganzen weiten Weg hergekommen ist, um dich zu besuchen, findest du nicht auch, Junge? Es ist ein herrlicher Junitag. Die Sonne scheint. Die Vögel singen. Warum gehst du nicht runter und setzt dich in den Garten?«
    Ben hob den Kopf und blickte ihn an, und Sid sah den Zorn in seinen Augen.
    »Ich soll also auf meinem guten Bein runterhüpfen und Hallo sagen, was? Vielleicht einen netten Spaziergang ums Gelände machen und ein Tässchen Tee trinken?«
    Sid zuckte mit den Achseln. »Warum nicht?«
    »Warum nicht? Warum nicht ? Und wie komm ich runter? Wie kann ich mich vor ihr sehen lassen?«, fragte er sarkastisch und deutete auf sein fehlendes Bein. »Ich bin doch kein Mann mehr.«
    »Ach nein?«, fragte Sid. »Wie das? Haben dir die Deutschen auch die Eier weggeschossen?«
    Ben fiel die Kinnlade herunter.
    »Muss wohl so sein. Sonst gibt’s keine Erklärung, warum du hier oben jammernd in Selbstmitleid ertrinkst, statt runterzugehen und dieses hübsche Mädchen zu begrüßen.«
    Ben zog ein finsteres Gesicht und wollte auf Sid losgehen, brach dann aber in Lachen aus. Das Lachen wurde immer lauter, immer hysterischer, bis es in heftiges Schluchzen überging. Sid hatte das schon öfter erlebt. Die Ärzte hier waren feine, gebildete Leute und redeten nicht so unverblümt mit den Männern, wie Sid es tat. Aber manchmal war Schonungslosigkeit genau das, was die Männer brauchten, um sie aus ihrem Schneckenhaus herauszulocken.
    Sid setzte sich aufs Bett, tätschelte Bens Rücken und wartete geduldig, bis der Gefühlsausbruch abklang. »Bist du fertig?«, fragte er, nachdem der Junge sich beruhigt hatte.
    Ben nickte und wischte sich mit dem Ärmel die Augen ab.
    »Ich kenne deine Geschichte«, fuhr Sid fort. »Ich hab deine Akte gelesen. Du hast dich gleich am ersten Tag gemeldet und für dein Land gekämpft. Du warst drei Jahre an der französischen Front und hast dir eine ganze Reihe Tapferkeitsauszeichnungen verdient, bis dir eine deutsche Bombe das Bein weggerissen hat. Du wärst fast verblutet im Schlamm. Und dann fast an einer Infektion gestorben. Der Feldarzt, der dich wieder zusammengeflickt hat, hält es für ein Wunder, dass du überhaupt noch am Leben bist. ›Einer der zähesten, tapfersten Jungen, den ich je gesehen habe‹, schrieb er. Du bist ein Mann, Ben Cotton. Und selbst mit einem Bein noch mehr als die meisten mit zweien.«
    Ben sagte nichts, aber Sid sah, wie sein Kiefer mahlte. Er griff nach unten, hob die Prothese auf und reichte sie Ben, in der Hoffnung, er würde sie nehmen. Das tat er. Und schnallte sie an.
    »Ich kann nicht richtig damit gehen. Ich humple damit herum wie ein Tattergreis.«
    »Du kannst noch nicht richtig damit gehen«, entgegnete Sid. »Das braucht ein bisschen Übung. Lass dir Zeit.«
    »Was ist mit Ihrem Bein passiert?« fragte Ben. »Ich hab Sie hier schon gesehen. Sie humpeln. Ist das im Krieg passiert?«
    »Nein, das war ein Stier. Und ein schlechter Arzt. Vor Jahren. In Denver, in einem

Weitere Kostenlose Bücher