Die Wildrose
größte Herausforderung dar. Tagaus, tagein hatte er mit ihm gearbeitet und alles ausprobiert, was ihm nur eingefallen war. Als rein gar nichts fruchtete, war er auf die Idee gekommen, seinem Vater zu schreiben. Sein Vater hatte geantwortet und ihm vom Leben auf ihrem Bauernhof berichtet, von den Feldern und dem Vieh und von Bella, dem großen Arbeitspferd, einer widerspenstigen Kreatur, die sich nur von Stephen bändigen ließ.
Sofort war ihm Hannibal, der Ackergaul, eingefallen, ein riesiges, eigensinniges Tier, mit dem nur Henry umgehen konnte, und selbst der hatte Schwierigkeiten mit ihm. Sid hatte Henry gebeten, Hannibal am Abend ein wenig länger auf der Weide zu lassen, weil er draußen etwas fügsamer war als im Stall und Sid das Tier in umgänglicher Stimmung brauchte. Er plante, Hannibal mit Karotten an den Zaun zu locken und dann Stephens Hand auf seine Nüstern zu legen.
Als er zu Stephens Zimmer ging, holte er tief Luft, um sich zu beruhigen. Er war aufgeregt, wollte seine Erregung aber nicht auf Stephen oder Hannibal übertragen, um sie nicht zu ängstigen. Er glaubte, sein Plan könnte tatsächlich gelingen und das Tier einen Zugang zu Stephen herstellen. Allerdings konnte Hannibal, der Mistkerl, ihnen einen solchen Tritt versetzen, dass sie beide übers Gatter flogen.
Sid eilte über die Wiese zwischen dem Hospital und dem Haus, in dem er inzwischen wohnte – in Brambles, dem Cottage des Hausmeisters.
Es war dunkel. India würde ihn sicher schelten, weil er – wieder einmal – den Tee versäumt hatte. Er hatte sich nicht verspäten wollen, aber nach dem Durchbruch mit Stephen jedes Zeitgefühl verloren. Er war so aufgeregt und so glücklich, dass er es gar nicht erwarten konnte, India davon zu erzählen. Sie machte sich ebenfalls Sorgen um Stephen, erkundigte sich nach ihm und besuchte ihn fast jeden Tag selbst.
Als er sich dem Cottage näherte, sah er seine Frau durchs Küchenfenster. Sie saß am Tisch und las. Er blieb einen Moment stehen und beobachtete sie. Genau so hatte er einst vor ihrer Wohnung in Bloomsbury gestanden. Bevor sie seine Frau geworden war, bevor sie ihre Kinder bekamen, bevor er sich hätte träumen lassen, je solches Glück mit ihr zu erleben.
Sie stützte beim Lesen den Kopf auf die eine Hand und blätterte mit der anderen die Seiten ihrer Zeitschrift um – sicher die Lancet , eine medizinische Fachzeitschrift. Als er sie kennenlernte, war sie eine frischgebackene Ärztin, eine Frau, die sich hingebungsvoll der Heilung ihrer Patienten widmete, und daran hatte sich nichts geändert. Außer dass sie im Lauf der Jahre noch passionierter geworden war.
Wickersham Hall war ihre Idee gewesen. Als die ersten Verwundeten zurückkehrten, hatte sie freiwillig deren Pflege am Barts Hospital übernommen, aber bald eingesehen, dass ein überfülltes städtisches Krankenhaus den Bedürfnissen von verwundeten Kriegsveteranen nicht gerecht werden konnte. Und ihm einen Brief geschrieben.
Mein lieber Sid,
heute hatte ich eine ganz großartige Idee. Ich möchte Wickersham Hall nicht mehr verkaufen. Ich möchte es in ein Hospital umwandeln – in ein Hospital für Kriegsversehrte. In einen Ort, wo sie beste Pflege bekommen und in Ruhe so lange bleiben können, bis sie wieder ganz hergestellt sind. Das wäre die Chance, einen traurigen, unglücklichen Ort in etwas Nützliches und Hoffnungsvolles zu verwandeln. Ich kann mir keine bessere Form denken, um das Andenken meiner Schwester zu ehren, und in meinem Herzen weiß ich, dass es das ist, was Maud gewollt hätte …
Das war im Januar 1915. Sie waren seit Monaten getrennt gewesen. Nachdem sie die Nachricht von Mauds Tod erhalten hatte, waren India und die Kinder nach London gefahren, um herauszufinden, warum ihre Schwester sich das Leben genommen hatte, und um ihren Nachlass zu regeln. Maud hatte ihr gesamtes Vermögen India vererbt, und India, die keine Verwendung für Mauds Oxforder Anwesen hatte und sich in Mauds Londoner Haus nicht wohlfühlte, beschloss, beides zu verkaufen. Sie dachte, sie würde zwei, höchstens drei Monate in England bleiben und dann nach Kalifornien zurückkehren.
Aber dann brach der Krieg aus. India war es zwar gelungen, Mauds Londoner Haus zu veräußern, aber für Wickersham Hall einen Käufer zu finden war schwieriger. Die Leute waren ängstlich und verunsichert und zeigten wenig Interesse, große Landgüter zu erwerben.
Aufgrund der Kriegshandlungen und Blockaden waren Schiffsreisen gefährlich
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