Die Wildrose
einzuflößen. Ein paar Minuten später jedoch erbrach er alles wieder. Willa bat um mehr Tee und flößte ihm erneut eine kleine Menge ein. Wieder schüttelten Krämpfe den kleinen Körper, und wieder behielt er die Leben spendende Flüssigkeit nicht bei sich.
Willa veränderte ihre Taktik. Sie benutzte den Rest des Tees, um ihn zu waschen. Die Flüssigkeit, die auf seinem Körper verdunstete, und die kühlende Wirkung der Minze halfen, seine Temperatur zu senken, aber er war noch immer nicht bei Bewusstsein und stöhnte vor Schmerz. Nachdem sie ihn abgewaschen hatte, bat sie abermals um mehr Tee und flößte ihm erneut davon ein. Und wartete. Zwei Minuten. Vier. Zehn. Es folgten keine Krämpfe mehr. Kein Erbrechen. Hatte sein Körper beim ersten Einflößen doch etwas von dem Akonit aufgenommen? Willa hoffte es. Seinen Körper davon abzuhalten, jeden Tropfen Flüssigkeit, den sie ihm einflößte, wieder von sich zu geben, war ihre einzige Möglichkeit. Er war nur noch Haut und Knochen. Und atmete schwer. Sie legte den Finger unterhalb des Ohrs an seinen Hals. Sein Puls flatterte. Er stand tatsächlich auf der Schwelle zum Tod. Sie würde hart kämpfen müssen, um ihn zurückzuholen.
»Könnte ich eine Kanne Kaffee haben?«, fragte sie Fatima.
Fatima sah sie mit aufgerissenen Augen an. »Kaffee? Ist der nicht zu stark? Hilft ihm der?«
»Nein, aber mir«, antwortete sie. »Es wird eine lange Nacht werden.«
Stunden vergingen, dann die Nacht und der folgende Tag. Willa weigerte sich zu schlafen. Immer und immer wieder hob sie den Kopf des Jungen, hielt das Glas mit dem Tee an seine Lippen und redete ihm gut zu. Immer wieder wusch sie seinen mageren Körper. Und irgendwie hielt das Kind, Daoud war sein Name, durch. Er machte die Augen nicht auf, sein Fieber sank nicht, aber der Durchfall ließ nach, und er hielt durch. Willa gab ihm eine weitere Dosis Akonit. Dann Chinin. Sie trank Kaffee, aß Fladenbrot und gebratene Ziege und wartete.
Während sie Wache hielten, unterhielt sie sich mit Fatima. Über den Scheik. Über die Wüste. Über Kamele und Ziegen. Über Lawrence. Über Willas Unfall. Über Fatimas Hochzeit. Über ihr Leben.
»Es ist Trauer in dir«, sagte Fatima, als es Morgen wurde nach der ersten Nacht. »Das sehe ich in deinen Augen.«
»Ich bin nicht traurig, nur müde«, erwiderte Willa.
»Warum hast du keinen Mann? Kein eigenes Kind?«
Als Willa nicht antwortete, hakte Fatima nach.
»Es gab einmal einen Mann. Ich liebte ihn sehr. Das tue ich immer noch. Aber er ist mit einer anderen zusammen«, antwortete sie schließlich.
Fatima schüttelte den Kopf. »Aber warum kann er nicht euch beide heiraten? Seiner ersten Frau müsste er natürlich mehr Schmuck geben. Und ein besseres Zelt. Das steht ihr zu. Aber du wärst seine zweite Frau, und das ist nicht so schlecht.«
Willa lächelte gequält. »Wo ich herkomme, geht das nicht«, erklärte sie. »In London dürfen Männer nur eine Frau haben, und es gibt keinen Platz, um ein Zelt aufzuschlagen.«
»Ich verstehe diese Engländer nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Willa.
Später, als es wieder Nacht wurde und Daoud noch immer die Augen geschlossen hielt, wandte sie sich erneut an Fatima. »Bist du oder die anderen Frauen der Beni Sakhr je unzufrieden mit eurem Schicksal? Sehnt ihr euch je nach etwas anderem?«
»Nein«, antwortete Fatima langsam, als hätte sie sich diese Frage zum ersten Mal überlegt. »Warum sollte ich? Das ist das Leben, das Allah für mich bestimmt hat. Das ist mein Schicksal. Bist du mit deinem Leben unzufrieden?«
»Nein, aber das ist doch der Kern der Sache, oder? Es gibt nichts, worüber ich unzufrieden sein könnte. Ich habe meine Freiheit.«
Fatima lachte schallend auf. »Glaubst du das?«
»Ja, das glaube ich. Was um alles in der Welt ist so komisch daran?«, fragte Willa.
»Du bist komisch. Du magst deine Freiheit haben, Willa Alden, aber du bist nicht frei«, erwiderte Fatima. »Du bist eine getriebene Kreatur. Von irgendetwas besessen. Wovon, weiß ich nicht. Aber was es auch ist, es verfolgt dich. Es treibt dich von zu Hause fort, lässt dich in der Wüste mit Verrückten wie Auda abu Taji und Scheik Lawrence Hirngespinsten nachjagen.«
»Man nennt es Krieg, Fatima. Ich kämpfe für mein Land. Es wird anders sein, wenn er vorbei ist. Dann gehe ich heim. Dann kaufe ich mir ein hübsches Haus auf dem Land, bin friedfertig und froh und nähe am Feuer.«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Fatima.
»Aber
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