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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Schlachthaus. Ein Stier ist auf mich losgegangen, und ich bin gestürzt. Der Doktor hat es schlecht gerichtet. Es ist nicht richtig zusammengewachsen. Meistens komme ich aber zurecht. Manchmal, wenn es mir wehtut, brauche ich einen Stock.«
    »Sie sind verheiratet, nicht wahr?«, fragte Ben. »Mit der Ärztin?«
    Sid hörte die Qual in seiner Stimme. »Das stimmt«, antwortete er. »Sie hat mich gemocht, bevor mein Bein kaputt war. Und hinterher auch.«
    Ben nickte.
    »Hier, die Kleider«, sagte Sid. »Die Ärzte lassen einen hier ständig in diesen lächerlichen Nachthemden rumrennen, was ich nicht verstehe. Kein Wunder, dass du dir nicht wie ein Mann vorkommst – ohne Hosen.«
    Ben dankte ihm, griff nach den Kleidern und zog sie an. Dann stand er auf. Mit ein paar unbeholfenen Schritten ging er zur Tür und drehte sich mit geballten Fäusten um. »Ich hab Angst.«
    »Das kann ich dir nicht verdenken, Junge. Frauen machen einem mehr Bammel als das ganze schaurige Kriegsarsenal der Deutschen.«
    Ben lächelte tapfer. Dann straffte er die Schultern, drehte sich wieder um und humpelte davon.
    Sid wartete ein paar Minuten, dann folgte er ihm nach unten und warf einen schnellen Blick in den Besucherraum. Das Mädchen, Amanda hieß sie, weinte und lachte gleichzeitig, und Sid konnte sehen, dass es Freudentränen waren.
    Als Sid sich rasch wieder zurückzog, kam gerade Dr. Barnes in Hut und Mantel und mit der Aktentasche in der Hand vorbei. Auch er warf einen schnellen Blick in den Besucherraum und lächelte.
    »Gut gemacht, Mr Baxter! Bravo!«, sagte er leise.
    Sid lächelte. »Ich schätze, Ben wird bald ein bisschen mehr essen und reden. Vielleicht sich sogar bemühen, mit seinem neuen Bein zurechtzukommen. Erstaunlich, nicht, wie Frauen uns dazu bringen, uns wieder zusammenzureißen?«
    »Erstaunlich ist vor allem der Effekt, den Sie auf die schweren Fälle haben«, antwortete Dr. Barnes lachend.
    »Wahrscheinlich braucht es einen, der sich damit auskennt.«
    Dr. Barnes erklärte Sid, dass er Dienstschluss habe, und fragte, ob er ebenfalls nach Hause gehe.
    »Bald«, erwiderte Sid. »Aber ich dachte, ich sehe zuerst noch mal zu Stephen rein. Wenn Sie nichts dagegen haben.«
    »Natürlich nicht. Irgendein Anzeichen von Leben bei ihm?«
    »Vielleicht.«
    »Wirklich?«, fragte Dr. Barnes interessiert.
    »Kein Grund zur Aufregung, mein Freund. Ich sagte, vielleicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich dachte, ich hätte gestern was bemerkt, als ich ihn in die Ställe brachte. Ich habe erfahren, dass seine Angehörigen Bauern sind, verstehen Sie.«
    »Wie haben Sie das erfahren? Stephen spricht doch nicht.«
    »Ich habe seinem Vater geschrieben und ihn gebeten, mir so viel wie möglich von Stephens Leben zu erzählen. Von dem vor dem Krieg, meine ich.«
    Dr. Barnes nickte beeindruckt.
    »Wie auch immer«, fuhr Sid fort. »Mir kam die Idee, ihn an den Pferden und Kühen vorbeizuführen, und ich dachte – wie gesagt, vielleicht habe ich mir das auch bloß eingebildet –, aber ich fand, das Zittern sei ein bisschen besser geworden, und ich habe gesehen, wie er den Blick auf Hannibal, das große Zugpferd, gerichtet hat. Bloß einen Moment lang. Deshalb wollte ich ihn heute Abend noch einmal hinbringen. Wenn alle Tiere von den Feldern zurück sind und die Kühe gemolken werden.«
    »Sie haben sehr unorthodoxe Methoden, aber bitte, um Himmels willen, bleiben Sie dabei. Gute Nacht, Sid.«
    »Bis dann, Doc.«
    Sid ging durch einen langen Flur zu einer Reihe von Räumen im hinteren Teil des Hospitals, zu Räumen mit gepolsterten Wänden und Matratzen statt Betten, zu Räumen für Männer, die an einer Kriegsneurose litten. Viele von ihnen hatten keine physischen Verletzungen, doch von allen Patienten in Wickersham Hall waren sie am meisten geschädigt und am schwersten zu behandeln.
    Er erinnerte sich, dass er und India eigentlich gar keine Vorstellung davon hatten, was eine Kriegsneurose war, als sie das Hospital eröffneten. Sie hatten sich auf Amputierte eingestellt, auf schwere Verbrennungen, selbst auf Hirnverletzungen durch Kugeln oder Schrapnelleinschläge, aber auf die armen Kerle, die entweder zitternd und bebend zu ihnen kamen oder völlig apathisch im Rollstuhl saßen, waren sie nicht vorbereitet gewesen. Manche kamen mit fest zugekniffenen Augen, andere starrten ausdruckslos vor sich hin, manche hatten die Augen weit aufgerissen, als blickten sie noch immer auf das Gemetzel, das sie in den Wahnsinn getrieben

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