Die Wildrose
hatte.
Dr. Barnes wollte, dass sie über ihre Erlebnisse auf dem Schlachtfeld sprachen und schilderten, was ihnen geschehen war, statt alles in sich hineinzufressen. Manchmal brachte das Sprechen Heilung, manchmal nicht. Sid beobachtete die Methoden des Arztes und war von dessen guten Absichten überzeugt, aber insgeheim fragte er sich, wie es den Männern helfen sollte, noch einmal die Hölle vor sich erstehen zu lassen, die sie durchlitten hatten.
»Wer möchte schon immer und immer wieder davon sprechen?«, fragte er India. »Möchten die Jungs nicht einfach bloß alles vergessen? Einen Baum anschauen oder einen Hund streicheln und nie mehr daran denken, dass sie je in einem Schützengraben lagen? Wenigstens bis sie etwas kräftiger geworden sind und mit den Erinnerungen umgehen können?«
»Hört sich an, als hättest du eine Idee?«
»Vielleicht«, antwortete Sid. »Vielleicht.«
Am nächsten Tag ging er zu Dr. Barnes und fragte, ob er die Männer auf einen Spaziergang um das Gelände mitnehmen dürfe. Die frische Luft könnte ihnen guttun. Dr. Barnes, der durch die Nöte seiner Patienten ohnehin überfordert und für jede Hilfe dankbar war, stimmte schnell zu.
Sid begann mit einem neunzehnjährigen Jungen namens Willie McVeigh, dessen ganze Einheit an der Somme aufgerieben worden war. Willie selbst war in die Seite geschossen worden und hatte zwei Tage neben seinen toten und sterbenden Kameraden auf dem Schlachtfeld gelegen, bevor ein Feldarzt ihn fand. Als er in Wickersham ankam, war sein Körper steif, und seine Augen waren so aufgerissen wie die eines verängstigten Pferdes.
Sid hatte ihn an diesem Aprilmorgen am Arm genommen, und gemeinsam waren sie um das Gelände von Wickersham Hall gewandert, um die ganzen einhundertzwanzig Hektar. Währenddessen deutete Sid auf die hervorsprießenden Narzissen und Tulpen. Er zeigte Willie die frischen Weidenblätter und die aufbrechenden Fliederblüten. Er forderte ihn auf, sich auf den frisch umgegrabenen Boden des Küchengartens zu setzen, und steckte seine verkrampften Hände in die fruchtbare, nasse Erde.
Fünf Wochen lang umrundeten sie so jeden Tag Wickersham, ohne erkennbare Wirkung. Aber Sid gab nicht auf, bis sich Willie nach zwei Monaten plötzlich bückte, eine Erdbeere pflückte, sie aß und fragte, ob er noch eine nehmen dürfe.
Sid gab ihm nicht nur eine, sondern einen ganzen Korb voll. Er hätte den ganzen Garten leer gepflückt, wenn der Junge ihn darum gebeten hätte. Während er zusah, wie Willie die Beeren aß, hätte er vor Freude Luftsprünge machen können.
Am nächsten Tag fragte er Henry, den Gärtner, ob ihm Willie beim Jäten helfen dürfe.
»Was ist, wenn er einen Anfall kriegt? Und meine Pflanzen zerstört?«, fragte Henry skeptisch.
»Das wird er nicht, Henry. Das weiß ich«, antwortete Sid.
Er wusste gar nichts. Tatsächlich erwartete er bis zu einem gewissen Grad, dass Willie auf ihn losgehen könnte, was aber nicht geschah. Sid saß auf einem Stuhl am Gartenrand und beobachtete Willie so aufmerksam wie eine junge Mutter, die zusieht, wie ihr Sprössling seine ersten Schritte macht. Und Willie machte seine Sache ganz wunderbar. Er hackte das Unkraut, häufelte sorgfältig die Erde um die Wurzeln der Pflanzen an und half Henry beim Ernten der Beeren.
Als ihm Henry am Ende des Tages sagte, wie gut er gearbeitet habe, erwiderte Willie bloß: »Mein Dad hat einen kleinen Garten gehabt. Da hab ich ihm immer geholfen.« So viel hatte er seit seiner Ankunft noch nicht gesprochen.
Es gab natürlich auch Rückschläge. Bei einem Gewitter verkroch sich Willie unter einer Bank, und Sid musste ihm zwei Stunden lang gut zureden, damit er wieder hervorkam. Die Fehlzündungen eines Motorrads ließen ihn vor Angst schreiend ins Haus rennen, und danach weigerte er sich volle drei Tage, es wieder zu verlassen. Aber inzwischen gab es mehr Fortschritte als Rückschläge. Bei Willie wie bei den anderen. Bei Stanley etwa, der gern Brotteig knetete, wie Sid feststellte, denn die gleichförmige Bewegung beruhigte ihn. Er half jetzt Mrs Culver, der Köchin, beim Backen. Und bei Miles, der ständig auf einem imaginären Klavier spielte, bis Sid ihm ein echtes besorgte, auf dem er jetzt Brahms, Chopin und Schubert für die anderen Patienten vortrug.
Aber nicht bei Stephen. Dem armen, verrückten Stephen, der vor sechs Monaten mit roten Striemen am Hals eingeliefert worden war, weil er versucht hatte, sich zu erhängen.
Stephen stellte Sids
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