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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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abgekriegt, direkt an der Wasserlinie. Und dann noch einen am Vorderdeck. Einen Splitter davon hab ich mir eingefangen.«
    »Verdammter Mist.«
    »Ja, da hast du recht«, antwortete Seamie bitter lächelnd. »Das Schrapnell hat meine Rippen und mein Herz verfehlt, aber mir ein Stück Fleisch aus der Seite gerissen. Glücklicherweise hatten wir die Position des Kanonenboots bestimmt und konnten sie, etwa fünfzehn Minuten bevor wir getroffen wurden, an eines unserer Schiffe funken. Sie kamen zu spät, um den Angriff zu stoppen, aber noch rechtzeitig, um uns zu retten.« Sein Lächeln verblasste. »Nun ja, jedenfalls die meisten von uns. Ich habe fünf Mann verloren.«
    »Tut mir leid.«
    Seamie nickte. »Mir auch. Man hat uns nach Haifa gebracht. Aber ich schwöre dir, wenn ich gewusst hätte, dass sie mich so lange im Hospital einsperren, wäre ich im Wasser geblieben. Ich sterbe vor Langeweile. Ich habe mich wahnsinnig gefreut, als ich hörte, dass du in Haifa bist. Ich kann’s noch immer nicht glauben.«
    »Wie hast du davon gehört? Eigentlich sollte mein Aufenthalt hier doch der Geheimhaltung unterliegen.«
    »Rein zufällig. Ich habe mitbekommen, wie eine der Schwestern mit ihrer Freundin über dich gesprochen hat. Anscheinend warst du wegen irgendwelcher Magenprobleme dort.«
    Albie zog eine Grimasse. »Ja. Die Ruhr. In Kairo eingefangen. Verdammt scheußliche Sache.«
    »Wie auch immer, ich schätze, sie hat dir irgendeine Medizin gegeben und sich dann in dich verknallt. Gott weiß, warum. Als ich deinen Namen hörte, bat ich sie, dich zu beschreiben, und da wusste ich, dass du es warst. Es konnte ja nicht zwei schlaksige, vieräugige Supergehirne mit dem Namen Albie Alden geben.«
    Albie lachte. »Kannst du mal zwei Minuten den Mund halten, damit ich diese Telegramme zu Ende lesen kann?«
    »Ich tu mein Bestes«, erwiderte Seamie und nahm eine Mappe, mit der er sich in der mörderischen Augusthitze Luft zufächelte.
    Eine halbe Stunde zuvor hatte er an Albies Tür geklopft. Sein alter Freund war ziemlich überrascht gewesen, ihn zu sehen. Er bat ihn herein, und Seamie erfuhr, dass Albie vor zwei Tagen in Haifa eingetroffen war. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte er ihm, dass er von London, wo er seit 1914 für »Room 40«, eine Gruppe von Codeknackern im Dienst der Marine, gearbeitet hatte, nach Westarabien versetzt worden war, um dort Geheimdienst- und Spionagetätigkeiten zu leiten.
    Seamie konnte kaum fassen, dass sein scheuer, stiller Freund zu diesen Leuten gehörte. Er erinnerte sich, wie erschöpft und angespannt Albie 1914 gewirkt hatte. Er dachte damals, dies sei auf die Krankheit seines Vaters und seine Überarbeitung zurückzuführen. Jetzt wusste er, dass Albie und ein Team brillanter Gelehrter der Universität Cambridge schon vor Ausbruch des Krieges fieberhaft daran arbeiteten, deutsche Geheiminformationen abzufangen und zu entschlüsseln. Er hatte Albie schon immer bewundert, aber jetzt noch viel mehr, seitdem er wusste, wie unbarmherzig er sich geschunden hatte – buchstäblich Tag und Nacht –, selbst nach dem Verlust seines geliebten Vaters.
    Albie hatte inzwischen die Telegramme zu Ende gelesen, erhob sich und rief seine Sekretärin. Er bat sie, die Telegramme abzulegen, bevor sie ging, dann nahm er seine Aktentasche.
    »Tut mir leid, dass ich so unaufmerksam war. Im Moment ist alles ein bisschen hektisch. Ich muss bloß noch ein paar Sachen für eine Besprechung morgen früh einpacken, dann können wir gehen«, sagte er und sah Seamie ernst an. »Es ist wirklich schön, dich zu sehen. Ehrlich.«
    »Ja, ich freue mich ebenfalls, dich zu sehen, Alb. Haifa … wer hätte das gedacht?«
    Keiner von beiden sprach es aus, weil größere Gefühlsäußerungen nicht in ihrer Natur lagen, aber beide wussten, was ihre Worte in Wirklichkeit bedeuteten – dass sie eigentlich nicht mehr damit gerechnet hatten, sich jemals wiederzusehen.
    Der Krieg hatte Millionen das Leben gekostet, einschließlich vieler ihrer Freunde – Männer, die sie seit ihrer Kindheit gekannt, mit denen sie zur Schule, zum Segeln und zum Wandern gegangen waren, mit denen sie Kletter- und Zechtouren gemacht hatten.
    »Hast du von Everton gehört?«, fragte Seamie.
    »Gefallen. An der Marne.«
    »Erickson?«
    »An der Somme.«
    Seamie zählte noch ein weiteres Dutzend Namen auf. Albie erklärte ihm, dass zehn davon gefallen und die restlichen zwei verwundet worden seien.
    »Und George?«, fragte Seamie zögernd,

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