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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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vor ihrer Zelle Tag und Nacht zu unterscheiden. Morgen war, wenn der Wärter von Zelle zu Zelle ging, eine kleine Klappe öffnete und zu den Gefangenen hineinsah, um zu prüfen, ob sie noch lebten.
    Mittag war, wenn ihr die Wärter einen Krug frisches Wasser und die einzige Mahlzeit des Tages brachten und den Kübel ausleerten, der als Toilette diente.
    Abend war, wenn es still wurde im Gefängnis.
    Nacht war, wenn die Ratten hervorkrochen. Sie hatte gelernt, ihnen etwas Essen auf ihrem Teller übrig zu lassen und ihn in die Ecke zu schieben, damit sie sich untereinander darum stritten und sie in Ruhe ließen.
    Jeden Tag ritzte sie mit einem Stein einen Strich in die Wand. Daher glaubte sie, seit dreizehn Tagen eingesperrt zu sein.
    Die Wärter arbeiteten in festen Gruppen und redeten nur miteinander. Da sie die meiste Zeit stark fieberte, konnte sie nichts anderes tun, als stumm auf ihrer schmutzigen Pritsche zu liegen. Wenn sie es doch ab und zu schaffte, sich aufzusetzen oder ein paar Schritte zu gehen, versuchte sie, die Wärter in ein Gespräch zu verwickeln und herauszufinden, warum man sie festhielt und was man mit ihr vorhatte, aber sie sagten ihr nichts. Sie verstand jedoch ein bisschen Türkisch und entnahm den aufgeschnappten Gesprächsfetzen Worte wie »Lawrence«, »Damaskus« und »Deutsche«.
    Es war immer noch August, dessen war sie sich sicher. War Lawrence schon so schnell in Damaskus einmarschiert? Oder hatten die Türken mithilfe der Deutschen die Stadt gehalten? Und wo war sie überhaupt? Und was würden die Türken mit ihr machen?
    Zwei Wochen nach ihrer Einlieferung bekam Willa die Antwort. Der Wärter drehte seine übliche Morgenrunde, aber kurz darauf ging die Zellentür zum zweiten Mal auf. Der Wärter und zwei seiner Männer standen in der Türöffnung. Einer hielt eine Laterne. Der Wärter rümpfte die Nase wegen des Gestanks, dann schrie er Willa an aufzustehen. Sie konnte nicht. Das Fieber, das während ihrer Gefangenschaft immer wieder aufgeflammt war, war in der vergangenen Nacht gestiegen. Sie war schwach, nicht ganz bei Sinnen und besaß nicht die Kraft, sich auf den Beinen zu halten.
    »Helft ihr auf«, befahl der Wärter seinen Leuten.
    Einer fluchte leise. Er wolle sie nicht anfassen, sagte er. Sie sei schmutzig und krank. Der Wärter brüllte ihn an, und er tat schließlich das, was ihm befohlen wurde. Willa wurde aus der Zelle und durch einen langen Gang geschleppt. Das Tageslicht, das durch die Fenster einfiel, blendete sie. Doch ihre Augen hatten sich einigermaßen an das Licht gewöhnt, als sie an ihrem Bestimmungsort ankam – einem kleinen, gut beleuchteten Raum im hinteren Teil des Gefängnisses. In der Mitte des Raums stand ein Metallstuhl. Darunter war ein Abfluss. Bei dem Anblick krampfte sich Willas Magen zusammen.
    Bitte, betete sie. Lass es schnell gehen. »Der Tod reitet ein schnelles Kamel«, sagte Auda immer. Willa hoffte inständig, dass er recht hatte.
    Die Männer setzten sie auf den Stuhl und fesselten ihr die Hände auf den Rücken. Erst jetzt bemerkte sie, wie schmutzig sie war. Ihre Kleider waren zerfetzt, die Schuhe hatte man ihr schon vor Tagen weggenommen. Ihre Füße waren mit Schmutz verkrustet, eine rote Schramme verlief über ein Fußgelenk.
    »Wie heißt du?«, fragte der Wärter auf Englisch.
    »Little Bo Peep«, antwortete Willa. Während ihrer Gefangenschaft war sie schon mehrmals nach ihrem Namen gefragt worden, hatte sich aber immer standhaft geweigert, ihn zu verraten.
    Der Wärter schlug ihr ins Gesicht. Heftig.
    Es folgten weitere Fragen. Und weitere schlaue Antworten oder gar keine. Die Fragen wurden lauter. Und die Schläge gingen in Fausthiebe über. Willa spürte, wie ihr rechtes Auge anschwoll, sie schmeckte Blut im Mundwinkel, aber sie antwortete noch immer nicht. Sie dachte an Seamie. An den Kilimandscharo. An ihre gemeinsame Zeit in London. Und gab ihren Entführern nichts preis.
    »Weißt du, was ich mit dir mache, du dreckige Schlampe?«, fragte der Wärter schließlich auf Englisch. »Ich ramm dir meinen großen, dicken Schwanz in den Arsch, dass du schreist. Und wenn ich fertig bin, sind meine Männer an der Reihe.«
    Willa, deren Kopf jetzt auf der Brust hing, lachte. »Ach ja? Hoffentlich bist du erkältet und kannst nichts riechen.«
    Der Wärter fluchte. Er wandte sich an seine Männer und vergaß, wieder Türkisch zu sprechen. »Ich rühr sie nicht an. Sie stinkt wie die Pest. Auf ihrem Kopf wimmelt’s vor Läusen.

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