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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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neueste, die wir haben. Zerreiß sie, wenn du geschnappt wirst.«
    Seamie nahm die Karte. Dann zog er Albie an sich und umarmte ihn fest.
    »Ich komme zurück«, sagte er. »Mit ihr. Und du fängst in der Zwischenzeit ein paar Spione, ja? Damit mein nächstes Schiff nicht genauso hochgejagt wird wie mein letztes.«
    Dann stieg Seamie auf sein Kamel und ritt mit Abdul davon. Währenddessen hörte Albie die Stimme des Muezzins aus dem Innern der Stadt, der die Gläubigen zum Gebet rief. Er war nicht religiös, aber die Schönheit und Emotionalität der Stimme berührten ihn jedes Mal tief. Und als die Sonne aufging und ihre Strahlen über die Dünen der Wüste warf, schickte er trotzdem ein schnelles Gebet zum Himmel.
    Er bat Gott, Willa und Seamie zu beschützen, die beiden Menschen, die ihm so sehr am Herzen lagen. Er bat ihn, den beiden ihre wahnsinnige und rücksichtslose Liebe zu verzeihen, und dann bat er ihn um noch etwas – ihm selbst zu ersparen, jemals dergleichen erleben zu müssen.

   62   
    F iona blieb wie angewurzelt an den Türen von Wickersham Hall stehen – dem Hospital, das sie und Joe finanziell unterstützten und oft besuchten. Nie hätte sie gedacht, dass eines Tages ihr eigener Sohn als Patient hier sein würde.
    Zusammen mit Joe und Sid war sie früh am Morgen mit dem Zug aus London hergekommen. Eine Kutsche hatte sie am Bahnhof abgeholt und hergebracht. Sie war ausgestiegen, hatte gewartet, bis Sid und der Kutscher Joes Rollstuhl abgeladen hatten, und war dann mit ihrem Mann und ihrem Bruder zum Eingang des Hospitals gegangen. Aber jetzt hatte sie das Gefühl, keinen Fuß mehr vor den anderen setzen zu können.
    Sid war am Abend zuvor nach London gekommen, um Fiona, Joe und den Rest der Familie über den Zustand von Charlie zu informieren. Sie saßen alle gerade im Salon am Kamin. Als sie zu so später Stunde das Klopfen hörten, glaubte Fiona, das Herz würde ihr stehen bleiben. Sie sprang auf und wartete auf Mr Fosters Eintreten. Mit einem Sohn auf dem Schlachtfeld lebte sie in ständiger Angst vor schlimmen Nachrichten.
    »Er ist nicht tot. O Gott sei Dank!«, sagte sie, als Sid in den Raum trat. »Dann schicken sie nämlich ein Telegramm, nicht den Onkel.«
    »Niemand ist tot, Fiona«, antwortete Sid und schloss die Tür hinter sich.
    »Aber du bringst keine guten Nachrichten, oder? Sonst wärst du nicht um diese Zeit den weiten Weg hergekommen?«, fragte sie und machte sich innerlich auf alles gefasst. »Was ist passiert?«
    Sid bat sie, sich zuerst wieder zu setzen. Da wurde ihr klar, dass er tatsächlich Schlimmes mitzuteilen hätte. Man wurde immer genötigt, sich zu setzen, wenn es schlimme Nachrichten gab. Und so war es auch. Sie brach in Tränen aus, als er ihr von Charlie erzählte, und weinte die ganze Nacht hindurch. Eigentlich wollte sie sofort zum Hospital fahren, aber Sid war dagegen.
    »Er ist gerade erst eingeliefert worden«, erklärte er. »Lass ihn sich ausruhen. Vielleicht beruhigt es ihn, sich an einem sicheren, ruhigen Ort auszuschlafen.«
    Am nächsten Morgen waren sie zu dritt mit dem ersten Zug vom Bahnhof in Paddington abgefahren. Die kleineren Kinder wurden der Obhut von Mrs Pillower überlassen, Katie war in Oxford.
    Jetzt blickte Fiona auf die großen Türen. Einst war sie hier in glücklicheren Tagen hindurchgegangen, als sie Maud besuchte. Es fühlte sich an, als wäre es Ewigkeiten her, wie in einem anderen Leben. Sie erinnerte sich an andere Hospitaltüren, durch die sie gegangen war. In ihrer Jugend. Als sie erst siebzehn war. Damals war sie hindurchgeeilt, um ihren verletzten Vater zu besuchen, kurz bevor er gestorben war.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann nicht.«
    Joe, im Rollstuhl neben ihr, nahm ihre Hand. »Du musst, mein Schatz. Charlie braucht dich.«
    Fiona nickte. »Ja, du hast recht«, antwortete sie und lächelte ihn tapfer an. Dann gingen sie gemeinsam hinein.
    India erwartete sie. Sie umarmte und küsste die beiden wortlos und führte sie mit Sid zu einem Patientenzimmer. Fiona sah auf den armen Jungen, der auf dem Bett saß. Er zitterte, war blass und dürr wie eine Vogelscheuche. Er starrte an die Wand. Verwirrt wandte sie sich wieder ab.
    »Wo ist er denn? Wo ist Charlie?«, fragte sie.
    Sid legte den Arm um sie. »Fee … das ist Charlie.«
    Fiona schlug die Hände vors Gesicht und stieß ein leises, tierhaftes Stöhnen aus. Dann holte sie ein paarmal tief Luft und ließ die Hände wieder sinken. »Das ist nicht wahr«,

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