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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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entfuhr es ihr. »Wie konnte das passieren? Wie nur? Wisst ihr das?«
    »Wir wissen es, Fiona«, antwortete Sid zögernd. »India und ich haben gestern den medizinischen Bericht gelesen.«
    »Erklär’s mir.«
    »Es war schon schlimm genug, ihn zu lesen, Fee«, sagte Sid. »Und möglicherweise ist es noch schlimmer, sich das Ganze anzuhören. Ich glaube nicht …«
    »Sag’s ihr. Sag’s uns. Wir müssen es wissen«, forderte Joe ihn auf.
    Sid nickt und führte sie hinaus.
    »Laut Bericht des Feldarztes«, begann er, »war Charlie vor dem letzten Angriff auf seine Einheit fünf Monate lang ununterbrochen in den Schützengräben an der Front. Er hat unter grauenvollen Bedingungen durchgehalten und sich immer tapfer gezeigt. Oft ist er während des Gefechts auf die feindlichen Linien losgestürmt. Und dann, eines Morgens, beim Angriff auf eine feindliche Stellung, sind unmittelbar hintereinander zwei Granaten dicht neben ihm eingeschlagen. Die Detonation hat ihn taub gemacht. Und seinen Freund, Eddie Easton, in Stücke gerissen. Charlie war mit Eddies Blut und Fleischfetzen besudelt.« Sid hielt inne, um sich selbst wieder zu fassen. »Tut mir leid«, sagte er und räusperte sich.
    »Sprich weiter«, flüsterte Fiona, die Hände zu Fäusten geballt.
    »Charlie hat den Verstand verloren«, fuhr Sid fort. »Er hörte nicht mehr auf zu schreien und versuchte ständig, das Blut und die Fleischfetzen von sich abzuschütteln. Er wollte in den Graben zurückrobben, aber sein Kommandeur ließ ihn nicht. Der Mann – Lieutenant Stevens – schrie Charlie an, wieder aufs Schlachtfeld zurückzugehen, aber Charlie konnte nicht. Stevens nannte ihn einen Feigling und drohte, ihn wegen Befehlsverweigerung erschießen zu lassen, wenn er nicht gehorchte. Charlie schrie und zitterte. Eine weitere Granate explodierte in seiner Nähe. Er rollte sich zusammen. Stevens packte ihn und zerrte ihn zur Frontlinie zurück. Er schleppte ihn ins Niemandsland und fesselte ihn an einen Baum. Dort ließ er ihn sieben Stunden lang schmoren. Er behauptete, das würde ihn wieder zur Räson bringen, einen Mann aus ihm machen. Als der Granatenbeschuss aufhörte und Stevens den Befehl gab, ihn aus der Gefahrenzone zu holen, war Charlie katatonisch. Die zwei Soldaten, die ihn losmachten, sagten aus, sie hätten keinen Satz mehr aus ihm herausbringen können. Sie trugen ihn zum Graben zurück. Stevens ging erneut auf ihn los, schrie ihn an, ohrfeigte ihn – was keinerlei Wirkung zeigte. Daraufhin erklärte er ihn für invalid.«
    Als Sid geendet hatte, wandte sich Fiona an Joe, aber der hatte sich weggedreht. Sein Kopf war gebeugt. Er weinte. Dieser Mann, dieser gute, tapfere Mann, der nicht geweint hatte, als auf ihn geschossen wurde, der keine Träne vergossen hatte, als er seine Beine und fast sein Leben verlor, schluchzte.
    Taumelnd ging Fiona in Charlies Zimmer zurück. Zögernd machte sie einen Schritt auf ihren Sohn zu. Dann noch einen, bis sie vor seinem Bett stand. Sie kniete sich nieder und streichelte zärtlich seinen Arm.
    »Charlie? Charlie, mein Schatz? Ich bin’s, deine Mum.«
    Charlie gab keine Antwort. Er starrte an die Wand und zitterte weiterhin unkontrolliert. Fiona versuchte es noch einmal. Und immer wieder. Sie drückte seinen Arm. Streichelte seine Wange. Nahm seine zitternden Hände und küsste sie. Aber Charlie zeigte keinerlei Anzeichen, dass er wusste, wer sie war, wer er war oder ob er überhaupt etwas wahrnahm. Als sie es schließlich nicht mehr ertrug, legte sie den Kopf in den Schoß ihres Sohns und weinte. Sie dachte, sie hätte schon alles durchgemacht, was einem menschlichen Wesen widerfahren konnte. Aber jetzt stellte sie fest, dass das nicht zutraf, weil dieser Schmerz mit nichts vergleichbar war, was sie je erlebt hatte. Der Schmerz einer Mutter, die ihr geliebtes Kind völlig zerstört sah.
    Und außerdem stellte sie fest, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht weiterwusste. Sie wusste nicht, wie sie sich je wieder aufrappeln und weiterleben sollte. Sie wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, auch nur den nächsten Atemzug zu machen.

   63   
    W illa wartete auf den Tod.
     Sie hatte ihn erhofft, ihn in den endlosen dunklen Tagen in ihrer Zelle erfleht. Aber der Tod kam nicht. Nur die Einsamkeit und mit ihr die Verzweiflung. Nur der Hunger und die eisige Kälte der Wüstennächte. Nur die Läuse und mit ihnen das Fieber. Aber der Tod kam nicht.
    Sie lernte, anhand des Geräuschpegels und der Bewegung

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