Die Wildrose
gelesen hatte – einige waren ihr sogar aus Glasgow und Leeds geschickt worden –, und holte einen Teller, Besteck und eine Tasse Tee für ihre Schwägerin.
»Bleib sitzen, India«, sagte Fiona und rieb sich die Hände. »Ich kann mich selbst bedienen.« Sie küsste ihre Schwägerin auf die Wange, nahm ihr die Teetasse ab und setzte sich.
»Wie geht’s Charlie heute?«, fragte India. »Irgendwelche Fortschritte?«
»Nein, leider keine«, antwortete Fiona und häufte sich einen Berg Kartoffelpüree auf den Teller. »Wir sind schon fast durch den ganzen Rosengarten durch, aber er ist völlig unverändert. Ich hatte mir eigentlich mehr erhofft, als ich damals dieses Aufleuchten in seinen Augen bemerkte. Aber es gibt keine Veränderung. Ich frage mich inzwischen schon, ob ich mir diese Reaktion bloß eingebildet habe.«
»Ganz sicherlich nicht. Er braucht eben Zeit. Es wird schon«, erwiderte India. »Bei einer Mutter wie dir und einem Onkel wie Sid hat er gar keine andere Wahl.«
Fiona lachte, aber India sah, wie müde sie war, nachdem sie den ganzen Tag mit Charlie verbracht hatte. Aus Sorge, Fiona würde sich mit dem Hin- und Herfahren überanstrengen, hatten Sid und sie ihr angeboten, bei ihnen zu wohnen – was sie gerne angenommen hatte. Mr Foster war nach London zurückgekehrt, sie selbst fuhr an den Wochenenden nach London und kam montags wieder nach Oxford. India freute sich über die Regelung, weil sie die Gesellschaft ihrer Schwägerin sehr genoss.
»Es ist so still hier. Sind die Kinder schon im Bett?«, fragte Fiona und tunkte ein Würstchen in die Soße.
»Seit einer halben Stunde. Eigentlich wollten sie auf Sid warten – er hat versprochen, ihnen aus London was mitzubringen –, aber es war schon halb neun, und sie konnten kaum mehr die Augen offen halten. Ich sagte ihnen, er würde ihnen noch einen Gutenachtkuss geben, wenn er heimkommt.«
»Wo ist er denn hingegangen?«, fragte Fiona.
»Nach London. Gestern Abend ist er fort und über Nacht geblieben. Er sollte eigentlich um halb sieben zurück sein. Ich weiß nicht, was ihn aufgehalten hat.«
»Nach London?«, fragte Fiona mit besorgtem Unterton. »Warum denn?«
»Dir gefällt das auch nicht, stimmt’s?«, fragte India. »Ich habe ihn dringend gebeten, es nicht zu tun. Aber er meinte, er habe dort etwas Geschäftliches zu erledigen.«
»Was denn für Geschäfte?«
»Er sagte, er wolle mit jemandem über medizinischen Nachschub fürs Hospital verhandeln. Über Medikamente hauptsächlich.«
Fionas Miene entspannte sich. »Ah, dann geht’s also nur ums Krankenhaus? Verzeih mir, India. Es war albern von mir. Ich mache mir eben Sorgen wegen seiner Vergangenheit.«
»Ich weiß.« India legte die Zeitungen zusammen. »Ich ja auch. Ich habe immer Angst, jemand aus seinem früheren Leben erkennt ihn in der Stadt, und es gibt Schwierigkeiten. Das ist vermutlich dumm von mir, aber ich kann einfach nicht anders.«
»Na ja, wahrscheinlich kommt er jeden Moment. Ich wette, er hat bloß seinen Zug verpasst.« Fiona deutete auf all die Zeitungen vor India. »Was hast du da? Ein bisschen leichte Lektüre, um dich abzulenken?«
India vermutete, sie wollte bloß das Thema wechseln. »Wohl kaum«, antwortete sie. »Ich versuche, die Ausbreitung der Spanischen Grippe in Großbritannien zu verfolgen. Sie hat sich inzwischen eindeutig hier festgesetzt. Die Anzahl der Infizierten in Glasgow, Edinburgh, Newcastle und York nimmt zu. In den Midlands und Wales bleibt sie konstant, und in Weymouth, Brighton und Dover gibt es erste Fälle. In einer ganzen Reihe der größeren Städte werden in den betroffenen Gebieten Desinfektionsmittel auf den Straßen versprüht.«
»Gibt es hier bei den Jungs auch schon irgendwelche Anzeichen dafür?«, fragte Fiona.
»Noch nicht, Gott sei Dank. Aber für alle Fälle haben wir eine Quarantänestation eingerichtet. Harriet hat mir geschrieben, dass es auch in London losgeht. Südlich des Flusses hauptsächlich. Ich wünschte, ich könnte Jennie überreden, die Stadt zu verlassen und hierherzukommen. Gemeinsam mit James.«
»Hast du mit ihr darüber gesprochen?«, fragte Fiona.
»Ich habe ihr letzte Woche geschrieben und sie eingeladen, aber sie hat mir geantwortet, sie könne ihren Vater nicht allein lassen, und der würde seine Gemeinde nie aufgeben. Sie meinte allerdings, in Wapping seien noch nicht viele Fälle aufgetaucht. Wenn sich das ändern sollte, schrieb sie, würde sie James zu mir schicken. Du musst auch
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