Die Wildrose
unangenehmer und der Himmel immer noch grauer war als im übrigen London. Es war Sonntag, Anfang September. Ein paar dürftig gekleidete Leute, die im peitschenden Wind den Kopf gesenkt hielten, hasteten auf dem Gehsteig an ihm vorbei.
Sid wusste, wohin sie gingen – in Pubs, wo sie ihr Inneres mit Gin und ihr Äußeres am Kamin aufwärmen konnten. Oder, wenn sie kein Geld hatten, zurück in ihre engen, feuchten und armseligen Wohnungen. Wo es weder Wärme noch Freude oder Hoffnung gab. Er erinnerte sich nur allzu gut an diese elenden Unterkünfte.
Sid eilte weiter, weil er die Sache hinter sich bringen und das Viertel so schnell wie möglich wieder verlassen wollte, bis er vor Teddys Büro stand. Hoffentlich hatte Teddy in den vier Wochen seit ihrem letzten Treffen ein paar Informationen für ihn auftreiben können. Die Vorstellung, ein drittes Mal nach Limehouse kommen zu müssen, fand er alles andere als verlockend.
In der Diele schüttelte er seine nassen Kleider aus und nannte Teddys Sekretärin seinen Namen.
»Mr Ko erwartet Sie«, sagte sie und führte ihn in Teddys Büro. »Möchten Sie Tee, Mr Malone?«
»Gern, meine Liebe, danke«, antwortete Sid.
Er begrüßte Teddy, der an seinem Schreibtisch saß und auf Chinesisch ins Telefon brüllte, und nahm Platz. Teddy telefonierte noch ein paar Minuten weiter, dann knallte er den Hörer auf die Gabel.
»Tut mir leid, Sid«, sagte er. »Geschäftliche Probleme. Wie geht’s dir?«
»Gut, Teddy. Und dir?«
»Sehr gut, sehr gut. Ich bin bloß gerade informiert worden, dass eines meiner Schiffe verschollen ist. Kein Mensch hat irgendwas gesehen oder gehört von dem Dampfer, und ich glaub, der verdammte Kasten ist mit einer halben Tonne Opium an Bord untergegangen.«
Sid reagierte mit einem Anteil nehmenden Lächeln darauf – das hoffte er zumindest. Es war typisch für Teddy, dass er sich um sein Opium, nicht um das Schiff und die Besatzung sorgte. Teddy quasselte weiter und redete von Geschäftsabschlüssen, und wieder beschlich Sid das seltsame Gefühl, dass Teddy Zeit schinden wollte. Warum? Hatte er es nicht geschafft, irgendetwas über Maud und das Morphium herauszufinden?
»Teddy«, unterbrach er ihn schließlich. »Wie steht’s mit unserem Deal? Hast du was rausgefunden?«
Bevor Teddy antworten konnte, ging die Bürotür auf. Sid wandte sich um, in der Meinung, es sei Teddys Sekretärin mit dem Tee. Auf den er sich freute, weil er bis auf die Haut durchnässt war und gut und gern eine ganze Kanne von dem heißen Gebräu vertragen hätte.
Aber es war nicht Teddys Sekretärin. Sondern ein Gespenst aus früheren Tagen, das zurückgekommen war, um ihn zu verfolgen. Allerdings ein höchst lebendiges Gespenst, das von zwei knallharten Typen flankiert wurde.
»Na, ich seh wohl nicht recht. Wenn das nicht Sid Malone ist«, sagte Billy Madden. »Das nenn ich eine Überraschung. Ich dachte, du wärst tot, Sid. Ich war gerade in der Gegend und sagte mir, schau doch mal kurz bei Teddy rein – der freut sich immer so, wenn er mich sieht, stimmt’s, Ted? Und jetzt bist ausgerechnet du da.«
Aber Billy wirkte überhaupt nicht überrascht, und Sid bezweifelte stark, dass dieser Besuch rein zufällig war. Teddy hatte Billy gesteckt, dass er ihn aufsuchen würde, und das gefiel Billy aus irgendeinem Grund nicht. Zum Teufel, dachte Sid. Einschließlich Teddy waren es vier gegen einen. Warum bloß hatte er das nicht vorausgesehen? Er würde sich äußerst vorsichtig verhalten müssen.
»Warum hast du uns so plötzlich verlassen, Sid? Ohne wenigstens eine Abschiedsparty zu geben?«, fragte Billy und nahm auf dem Stuhl neben ihm Platz. Seine Schläger blieben an der Tür stehen.
»Mir ist es ein bisschen zu heiß geworden, Billy. Musste einen schnellen Abgang machen«, antwortete Sid und bemühte sich, gelassen zu klingen.
»Ja, stimmt. Aber jetzt bist du zurück.«
»Ganz richtig.«
Billy nickte. Er lächelte. Dann beugte er sich vor und fragte: »Was willst du hier, verdammt?«
»Ein paar Informationen. Von Teddy.«
»Informationen willst du?«, zischte Billy. »Ich geb dir ein paar Informationen, Sid: Du hast einen verdammt großen Fehler gemacht, hierher zurückzukommen. Mit wem arbeitest du zusammen? Mit Fat Patsy Giovanna? Den Kenny-Brüdern? Mit wem?«
Also darum ging’s – Billy dachte, er wollte sein früheres Gebiet zurück.
Sid hielt die Hände hoch. »Immer langsam mit den Pferden, Billy. Ich arbeite für überhaupt niemanden. Ich
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