Die Wildrose
alten Lager«, überlegte Seamie laut. »Und da ist nichts.« Er wandte sich an den Piloten. »Können Sie zu dem alten Lager rausfliegen?«, fragte er.
»Es ist etwa siebzig Meilen westlich von hier«, fügte Lawrence hinzu. »Haben Sie genügend Sprit?«
»Sprit ist nicht das Problem«, antwortete der Pilot. »Aber ich kenne die Gegend. Da sind überall nur Dünen. Ich kann nirgendwo landen. Wenn ich runtergehe, kann ich nicht mehr starten.«
»Dann machen Sie einen Aufklärungsflug«, schlug Seamie vor. »Ich begleite Sie. Wenn wir sie gefunden haben, drehen wir um, fliegen hierher zurück und schicken ihr sofort einen Trupp bewaffneter Reiter entgegen.«
»Also los«, erwiderte der Pilot und ging zu seiner Maschine zurück. Seamie folgte ihm auf den Fersen, aber Albie hielt ihn zurück.
»Was ist?«, fragte Seamie.
»Die Geschichte geht noch weiter. Nach Aussage des Kamelhändlers hat Willa einen hochrangigen deutschen Offizier getötet – einen gewissen Max von Brandt.«
» Was ? Den Max, den wir aus London kennen? Den Kerl, der auf meiner Hochzeit war?«
»Ja. Ich glaube, er ist der Meisterspion, Seamie, hinter dem ich schon lange her bin. Ich glaube, er hat während seiner Zeit in London für die deutsche Regierung gearbeitet und einen Maulwurf in die Admiralität eingeschleust, und diese Quelle ist immer noch aktiv. Versorgt die Deutschen nach wie vor mit Informationen über den Standort unserer Schiffe.«
Seamie konnte nicht glauben, was er hörte. »Hast du Beweise dafür?«
»Noch nicht. Bloß einen starken Verdacht. Von Brandt war in London, als der Informationsfluss nach Berlin einsetzte. Jetzt ist er hier. Oder besser gesagt, er war hier. Das sind zu viele Zufälle auf einmal. Er war sehr wertvoll für die Deutschen, und sie sind sicher nicht glücklich darüber, was mit ihm passiert ist.« Albie hielt einen Moment inne und schluckte schwer. »Der Kamelhändler sagte, wenn die Türken sie nach Damaskus zurückbringen, wird sie erschossen. Finde sie, Seamie. Bitte. Bevor die anderen sie finden.«
84
D a kommen sie«, sagte Willa und erstarrte im Sattel.
»Vergiss nicht, dass du stumm bist«, ermahnte Hussein sie.
»Das vergesse ich nicht. Und du vergiss nicht, wenn du das durchziehst … wenn sie uns durchlassen … gehört die Pistole dir«, erwiderte Willa.
Der junge Hussein grinste. Seine Augen blitzten. Er war erst fünfzehn. Das Ganze war ein Abenteuer für ihn, ein Spiel. Wenn er gut spielte, bekäme er einen Preis. Für Willa ging es um Leben und Tod.
Hussein spornte sein Kamel an. Willa folgte dicht hinter ihm auf Attayeh, der sich, nachdem er gefüttert und getränkt worden war, wieder fügsam zeigte. Was gut war, denn Willa musste ihn am kurzen Zügel halten, damit er nicht ausschlug oder eine der zweihundert Ziegen niedertrampelte, die sie umgaben. Doch wie sich herausstellte, zeigte Attayeh kein sonderliches Interesse an Ziegen.
Willa hatte früh am Morgen Husseins Dorf erreicht. Es lag am Rand einer Oase und hatte genügend Wasser für sie und ihr Kamel. Glücklicherweise war es weder ein Räubernest noch ein türkischer Außenposten, und mit dem Geld von Max konnte sie sich Lebensmittel und eine Flasche mit einem scheußlich bitteren Gebräu kaufen, das angeblich bei Magenproblemen half. Noch immer behielt sie nichts bei sich. Die Krankheit, was immer es sein mochte, setzte ihr schwer zu.
In dem Dorf lebten hauptsächlich Ziegenhirten, die ihre Tiere bei einer nahe liegenden Quelle weiden ließen. Hier wollte Willa einen Tag bleiben, sich ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Nachdem sie gemeinsam mit Attayeh unter ein paar Dattelbäumen im Zentrum des Dorfes gedöst hatte, fragte sie einen älteren Mann, ob er wisse, wo das Lager von Scheik Lawrence sei. Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf.
»Die anderen Besucher wollten das Gleiche wissen«, sagte er.
Willa stellten sich die Nackenhaare auf. »Welche anderen Besucher?«, fragte sie argwöhnisch.
»Die Soldaten, die durchkommen. Fast jeden Tag inzwischen. Die Türken.«
Willa sprang auf. »In welche Richtung reiten sie?«
»Überallhin«, antwortete der Mann und fuhr mit der Hand hin und her. »Sie suchen nach Lawrence und rasten hier wegen des Wassers.«
Willa geriet in Panik. Jeden Moment konnte eine türkische Patrouille hier eintreffen. Aus jeder Richtung. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen, füllte ihren Wasserbeutel und sattelte ihr Kamel. Dabei sah sie sich um und suchte nervös den
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