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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Horizont ab, ob irgendwo Staubwolken aufstiegen. Als sie aus dem Dorf hinausritt, sah sie zwei Jungen, die ihre Kamele sattelten – einer hatte etwa ihre Größe, der andere war kleiner. Um sie herum scharte sich eine Ziegenherde.
    Beim Blick auf die beiden kam ihr eine Idee. Sie ritt zu ihnen hinüber und erklärte ihnen hastig, dass sie an einer türkischen Patrouille vorbei müsse.
    »Tausch die Kleider mit mir«, sagte sie zu dem größeren Jungen, »und bleib hier in deinem Haus, während ich an deiner Stelle mit deinem Bruder wegreite. Wenn ich an der Patrouille vorbeikomme, gibt’s eine Belohnung für euch beide. Wenn nicht, behaupte ich, ich hätte deinen jüngeren Bruder entführt und ihn gezwungen, mit mir wegzureiten.«
    »Die Soldaten wissen doch, dass du keine von uns bist, sobald du den Mund aufmachst«, antwortete der Junge.
    »Dann muss dein Bruder eben sagen, dass ich taubstumm bin. Und nicht richtig im Kopf.«
    »Du darfst deine Augen nicht zeigen. Sie sind grün und nicht braun wie unsere.«
    »Ich werde zu Boden blicken.«
    Der ältere Junge schnaubte verächtlich. »Du bist eine Närrin. Das klappt nie. Du musst mit mir kommen. Du musst einen Schleier tragen. Ich werde sagen, dass du meine Schwester und stumm bist und dass ich dich zur Hochzeit in ein Dorf südlich der Quelle bringe und dass fünfzig der Ziegen deine Mitgift sind.«
    Willa zwinkerte ihm zu. »Das ist ein großartiger Plan. Einfach brillant.«
    »Stimmt. Aber ich hab noch nicht gesagt, dass ich’s mache. Was gibt’s als Belohnung?«
    »Eine von diesen«, antwortete Willa und zeigte ihm eine der mit Edelsteinen besetzten Pistolen, die sie bei sich hatte. Er riss die Augen auf. Die Pistole war mehr wert, als er je in seinem ganzen Leben verdienen würde.
    Die Jungen besprachen sich, dann schickte der ältere, Hussein, den jüngeren nach Hause, um Frauenkleider zu holen. Als er zurückkam, stellte Willa erfreut fest, dass zu den Kleidern auch ein Schleier gehörte mit einem schmalen, hinter einem Netz verborgenen Sehschlitz. Hussein war ein begabter Bursche. Wenn sie Lawrence je wiederfand, würde sie ihm von dem jungen Mann erzählen. Er wäre ein Gewinn für jede Armee. Schnell zog Willa die Kleider an. Sie hasste die Kopfbedeckung, hasste es, wie sie ihre Sicht und Bewegungsfreiheit einschränkte, dennoch war sie froh darum. Denn damit war sie eine Dorfbewohnerin geworden und als solche für alle, außer ihrer Familie, unsichtbar.
    Sie ritten los. Nach etwa einer halben Stunde entdeckten sie eine Patrouille am Horizont.
    »Bleib hinter mir«, sagte Hussein jetzt. »Halt den Kopf gebeugt. Wie es ein Mädchen aus dem Dorf tun würde.«
    Willa gehorchte. Die türkischen Soldaten stoppten sie und fuhren Hussein grob an.
    »He, du da!«, rief der Hauptmann. »Wo kommst du her, und wo willst du hin?«
    Er sagte es ihnen und fügte hinzu, dass er seine Schwester ins Dorf ihres neuen Ehemanns bringe.
    »Wie heißt du, Mädchen?«, herrschte der Hauptmann Willa an.
    »Sie kann nicht antworten, sie ist stumm«, erklärte Hussein. »Deshalb hab ich so viele Ziegen dabei. Weil sie stumm ist, muss mein Vater fünfzig statt fünfundzwanzig Ziegen hergeben, um sie zu verheiraten.«
    »Ach wirklich? Ihr bezahlt den Ehemann doppelt? Für eine Frau, die nicht sprechen kann? Das ist eine seltene und wunderbare Sache. Ich wünschte, mein Weib wäre auch stumm«, erwiderte der Hauptmann lachend. »Mein Junge, der Mann sollte euch was drauflegen!«
    Durch die blökende Ziegenherde hindurch ritt der Hauptmann zu ihnen heran und umkreiste sie beide, ohne Willa aus den Augen zu lassen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie ihn durch den Schleier beobachtete. Warum ließ er sie nicht passieren? Husseins Geschichte klang doch vollkommen glaubwürdig.
    Eine Sekunde später fand sie es heraus. Der Hauptmann holte mit seiner Reitgerte aus und versetzte ihr einen scharfen Hieb aufs Bein. Willa, die einen so gemeinen Trick erwartet hatte, war darauf vorbereitet. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte sie in ihrem Sattel zusammen, griff nach ihrem Bein und schaukelte hin und her, als hätte sie schreckliche Schmerzen. Obwohl es kein bisschen wehtat, weil der Hauptmann nur ihre Prothese getroffen hatte.
    Zufrieden sagte der Hauptmann: »Vergib mir, mein Junge, aber ich musste deine Geschichte überprüfen. Es ist noch eine andere Frau in der Wüste unterwegs, und die ist nicht stumm. Eine Engländerin, sie gehört zu Lawrence und ist sehr gefährlich.

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