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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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die Geschichte.
    »Mein Gott«, rief er aus, nachdem sie geendet hatte. »Können Sie denn noch klettern?«
    »Nur noch kleine Hügel hinauf«, antwortete sie und berührte das Foto zärtlich. »Ich habe das Klettern mehr geliebt als alles andere, abgesehen von Seamie. Wir hatten so viele Pläne. Wir wären auf jeden Berg der Welt gestiegen. Wir haben darüber gesprochen, was einen guten Bergsteiger ausmacht. Und uns entschieden, dass es Sehnsucht ist – der überwältigende Wunsch, der Erste zu sein, den Blick auf etwas zu werfen, was noch keiner zuvor gesehen hat.« Wehmütig lächelnd, fügte sie hinzu: »Das war vor vielen Jahren, bevor ich mein Bein verlor. Und Seamie sein Leben. Aber ich denke immer noch daran – an den Kilimandscharo, den Everest, an alle anderen Berge. Und in meinen Träumen besteige ich sie. Mit ihm.«
    Der traurige Unterton in ihrer Stimme entging Oscar nicht. »Es ist schrecklich, nicht wahr?«, sagte er ruhig, als Willa die Tür für ihn öffnete.
    »Was denn?«, fragte sie, als sie den Schlüssel aus der Tasche zog.
    »Was uns antreibt«, antwortete Oscar, während er die Treppe hinabstieg. »Die ständige Suche. Wir sind Gefangene, wir beide. Ich ein Gefangener der Musik, Sie einer der Berge. Und keiner von uns wird je frei sein.«
    »Vielleicht wird Freiheit überschätzt«, erwiderte Willa und sperrte ab. »Was wären wir denn ohne unsere Suche? Ich ohne meine Berge. Und Sie ohne Ihre Musik.«
    Oscar blieb auf einem Treppenabsatz stehen und blickte zu ihr hinauf.
    »Glücklich«, sagte er. Dann drehte er sich um und ging weiter.
    Willa lachte wehmütig und folgte ihm.

   99   
    E r würde sterben. Das wusste er jetzt. Er hatte drei Tage nichts gegessen. Zwei Tage nichts getrunken. Es gab keine Nahrung und kein Wasser mehr und keine Hoffnung, sich noch etwas zu beschaffen.
    Die Wachen waren fort. Zwei Tage nach dem Waffenstillstand, als sie hörten, der Krieg sei vorbei, waren sie abgezogen. Nachrichten verbreiteten sich langsam in der Wüste. Sie hatten die Kamele, die Ziegen, die Waffen, die Lebensmittel und Wasservorräte gepackt, waren abgehauen und hatten ihre Gefangenen – zweiundsiebzig britische Überlebende der U-Boot-Angriffe im Mittelmeer – sich selbst überlassen. Mitten in der Wüste.
    Wenigstens hatten sie die Zellen geöffnet. Weshalb die Männer rausgehen konnten – zumindest diejenigen, die dazu in der Lage waren –, um das Gefangenenlager und den Bestand an Vorräten zu erkunden.
    Das hatte nicht lange gedauert. Das Gefängnis war nicht mehr als eine Reihe von Steinhütten – die Überreste eines kleinen Dorfs, schätzten die Männer –, die durch Metallgitter vor den Fenstern und Vorhängeschlösser an den Türen in Zellen verwandelt worden waren. Es gab keine Toiletten, keine Waschbecken, keine Betten. Bloß ein paar Lumpen auf dem Boden, um darauf zu schlafen. Zu essen hatten sie verdorbenen Abfall bekommen. Die Temperaturen stiegen während des Tages auf vierzig und sanken in der Nacht oft unter zehn Grad.
    Von den sieben Kameraden, die mit ihm den U-Boot-Angriff überlebt hatten, waren in der ersten Woche drei an ihren Verletzungen gestorben. Walker war vor drei Tagen verhungert. Liddell letzte Nacht. Benjamin hielt noch durch, aber vermutlich nicht länger als bis zum Abend.
    Und Ellis, nun … er wusste nicht, ob Ellis noch lebte. Er war vor neun Tagen mit zwei anderen Männern losmarschiert und hatte geschworen, es bis nach Damaskus zu schaffen. Aber es lagen mehr als einhundertfünfzig Meilen Hitze und Sand zwischen diesem gottverlassenen Ort und der Stadt, und er und seine Kameraden waren krank, geschwächt und unterernährt. Höchstwahrscheinlich war einer nach dem anderen tot umgefallen.
    Was bedeutete, dass niemand auf britischer Seite wusste, dass sich er, Benjamin und die anderen Gefangenen überhaupt hier befanden.
    Vor drei Monaten hatten ihn die Deutschen aus dem Meer gefischt, wo er, an ein Stück Holz geklammert, im Wasser trieb. Seine Kleider waren zerfetzt, Blut lief ihm aus Mund und Nase. An seinem Hinterkopf klaffte eine große Wunde, und seine ganze rechte Körperhälfte, bis zum Bein hinab, war verbrannt.
    »Sie waren fast tot, als man Sie rauszog«, sagte Ellis, sein Steuermann. »Sie haben phantasiert. Waren völlig weggetreten. Wussten nicht mal mehr Ihren Namen.«
    Bir Güzel nannten ihn die türkischen Wachen – »der Schöne«. Was ein Scherz war, denn mit seinem blutunterlaufenen, verschwollenen Gesicht war er alles

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